Inhaltszusammenfassung:
Seit Mitte der 1990er Jahre, im Zuge der weltweiten Diskussion um eine Ausrichtung bürokratischer Verfahren am Ideal des Public Service, lässt sich auch auf europäischer Ebene eine Tendenz verfolgen, die dem Bürger im Verwaltungsprozess eine gewichtigere Position einräumt. Die vorliegende Magisterarbeit untersucht in diesem Kontext die Rolle des Europäischen Bürgerbeauftragten (auch: Ombudsman, im folgenden EB) bei der Entwicklung von Good Administration-Normen auf EU-Ebene in den Jahren 1995 bis 2003.
Die Institution des EB wurde mit dem Vertrag von Maastricht als Element der Unionsbürgerschaft institutionalisiert und während der ersten beiden Amtsperioden durch den Finnen Jacob Söderman verkörpert. Sie stellt eine außergerichtliche Beschwerdeinstanz für EU-Bürger dar, untersucht Streitfälle mit allen EU-Institutionen, die in direktem Kontakt zu den Bürgern stehen und vertritt so dessen Interessen im europäischen Verwaltungssystem. Mit weitreichenden Untersuchungskompetenzen ausgestattet, ist der EB in der Lage, wiederholt auftretenden Missständen nachzugehen und die Verwaltungsverfahren der EU in zentralen Punkten wie Transparenz, Gleichbehandlung und Rechtschaffenheit fortzuentwickeln. Somit wirkt er zweifach: Er schlichtet Konfliktfälle und entwickelt Normen für das Verwaltungssystem als Ganzes.
Die Ombudsman-Institution hat schwedische Wurzeln und existiert heute in ca. 110 Staaten der Welt. Für die junge supranationale EU-Verwaltung stellte ihre Einrichtung eine Innovation dar, deren Auswirkung auf die Verwaltungskultur der Europäischen Union ein bisher kaum untersuchter Forschungsgegenstand ist.
Zentraler Untersuchungsgegenstand sind zwei Fallbeispiele: Zum einen der Zugang zu den Dokumenten der Unionsinstitutionen und zum anderen die Entwicklung von Kodizes für gute Verwaltungspraxis auf europäischer Ebene. In beiden Fällen lässt sich im Untersuchungszeitraum eine Stärkung der individualrechtlichen Perspektive in den Regelungen und Verfahren der EU festhalten. Dies entspricht den inhaltlichen Zielvorstellungen, die der EB Jacob Söderman während seiner Amtszeit formulierte, und mag angesicht der traditionell schwachen politischen Machtposition der Ombudsman-Institution erstaunen: Die Empfehlungen des EB besitzen keinen rechtlich bindenden Charakter, ihre Nichtbefolgung wird nicht sanktioniert. Dennoch gelang es dem EB, durch Koalitionen mit Nichtregierungsorganisationen, dem Europäischen Parlament und den Medien, in den untersuchten Fällen die Bürgerperspektive auch gegen die Interessen der Europäischen Kommission und des Europäischen Rats stärker zu verankern. Greifbare Ergebnisse dieser Entwicklung sind die Verankerung eines Rechts auf Gute Verwaltung in Artikel 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Dezember 2000 und das Recht auf Zugang zu Unionsdokumenten in Artikel 255 EGV des Amsterdamer Vertrags.
Die theoretische Grundlage der Untersuchung liefert der in den 1980er Jahren von Paul A. Sabatier und Hank C. Jenkins-Smith entwickelte Advocacy Coalition Framework. Dieser Ansatz führt den Wandel von Politikprogrammen in einem konkreten Problemfeld auf den Konflikt konkurrierender Koalitionen zurück.