Inhaltszusammenfassung:
Die Tauwetterperiode ist eine durchaus ambivalente Phase in der sowjetischen Geschichte: Liberalisierung und Öffnung auf der einen Seite, Kampagnen gegen abweichendes Verhalten auf der anderen. Die Magisterarbeit beleuchtet den letzteren Bereich, indem sie die antireligiöse Politik in der Autonomen Republik Tatarstan unter Chruschtschow als ein Feld der repressiven staatlichen Politik untersucht. Die Wolgarepublik Tatarstan, die als Föderationssubjekt Teil der Russischen Sowjetrepublik war und auch heute Teil der Russischen Föderation ist, bietet aufgrund seiner demographischen Zusammensetzung eine interessante Bühne für die Untersuchung: Knapp die Hälfte ihrer Bewohner sind Tataren mit muslimischem kulturellen Hintergrund, während die andere Hälfte auf orthodox geprägten Russen besteht. In der Arbeit wird zunächst das spezielle Beispiel Tatarstans im gesamtsowjetischen Kontext verortet, dann die diskursive Ebene der Kampagne anhand von reichem Zeitungsmaterial untersucht und in einem letzten Kapitel wird auf Basis von Archivrecherche die Handlungsebene der antireligiösen Politik in Tatarstan beleuchtet. Der erstaunliche Befund besteht darin, dass zwar die diskursive Ebene durchaus in Intensität und Inhalt der gesamtsowjetischen entspricht, die Handlungsebene allerdings große Abweichungen zu dem aufweist, was auf im gesamtsowjetischen Kontext beobachtet werden kann: Nur selten kam es – wie in anderen Gebieten der Sowjetunion – zu konkreten Maßnahmen gegen einzelne Gläubige oder religiöse Gemeinschaften; die beteiligten Organe des tatarischen Staats- und Parteiapparats beschränkten ihre Aktivität auf die Verwaltung der einzelnen religiösen Gruppen, nicht auf deren Bekämpfung. Auf diskursiver Ebene lässt sich allerdings der Anspruch auf Exklusion und auf social und moral engineering feststellen, der gar nicht mit den allgemein der Tauwetterperiode eigenen Vorstellungen von Liberalisierung, Aufbruch zu Neuem und Freiheit zu passen scheint.