Inhaltszusammenfassung:
Der Begriff „Netzwerk“ erfreut sich im pastoraltheologischen Fachdiskurs zunehmender Beliebtheit, um diversitätsaffines kirchliches Handeln zu beschreiben. Auch im aktuellen Kirchenentwicklungsprozess der Diözese Rottenburg-Stuttgart „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten gestalten“ dient er als Leitbegriff. Dies nimmt die vorliegende qualitativ- empirische Studie zum Anlass, die konkrete Praxis der Kirche vor Ort am Beispiel einer Seelsorgeeinheit zu untersuchen und danach zu fragen, welche Bedeutungs- und Handlungsstrukturen situativ tatsächlich wirksam sind. Mit Harrison White wird dabei angenommen, dass sich Netzwerke – wie andere soziale Strukturen auch – in der Kommunikation und Interaktion der Akteure konstituieren und zeigen. Konkret werden die zu analysierenden Daten an drei Erkenntnisorten erhoben: Den Treffen des lokalen Prozessteams, einigen „flanierenden Netzwerk-Interviews“ entlang evangeliumrelevanter Orte im Sozialraum und dem Abschlussbericht des Prozessteams an die Diözese.
In den flanierenden Interviews wird eine verstreute, erfahrungshaltige Präsenzvermutung des Evangeliums sichtbar, in denen sich theologiegenerative Ereignisqualitäten der Kirche am Ort dokumentieren. Im Prozessteam und im Abschlussbericht wird diese „Kirche an vielen Orten“ von der Perspektive der einen „Kirche am Ort“ überlagert. Die prägenden Selbstverständlichkeiten scheinen Kirche, auch noch im Rücken gegenläufiger Absichten, als hierarchisch, organisationslogisch und unizentrisch zu modellieren. Alternativen, dezentraleren Perspektiven auf das Kirchenverständnis fällt es dagegen schwer, praktische Wirksamkeit zu entfalten. So werden die Beziehungen zwischen Prozessleitung und anderen (gemeindlichen) Orten weitgehend unidirektional und wenig partizipativ gestaltet, obwohl immer wieder die Intention sichtbar wird, Dialog herzustellen. Ebenso kann sich das Interesse an Erfahrungen nur schwer gegen die organisationslogische Orientierung an Fakten und Abläufen behaupten. Die Idee einer polyzentrischen Kirche vor Ort, in der die Kirchengemeinde (nur) einen Knotenpunkt unter anderen darstellt, kann sich in der expemplarisch untersuchten Seelsorgeeinheit nicht wirklich durchsetzen. Da Kirche hauptsächlich als Organisation verstanden wird, ergibt sich ein Bild, in welchem Organisation und ereignisbezogene Netzwerke weitgehend unvermittelt nebeneinanderstehen und sich zum Teil gegenseitig blockieren. Die kirchensoziologisch bekannten Nebenfolgen von mehr Organisation (soziale und inhaltliche Schließung) und mehr Vernetzung (Verdichtung) verstärken sich teilweise wechselseitig: Kirche am Ort würde dann leer und eng zugleich. Katholische Christ*innen finden lokal offenbar ihre Wege damit umzugehen und nutzen die Vielfalt vor Ort: den Wald, die Wegkreuze, das soziale Engagement oder evangelikal geprägte Orte. Auf der Suche nach einer neuen Verhältnisbestimmung von Kirche als Institution, Organisation und Netzwerk wäre die Frage nicht zu vergessen, welche Rolle die Diözesanleitung im Netzwerk pastoraler Orte eigentlich einnimmt: Welche veränderte Praxis von Kirche, welches veränderte Selbstverständnis wird dort sichtbar?