Inhaltszusammenfassung:
In modernen Kraftfahrzeugen wird heute für fast jede neue Funktionalität verteilte Software eingesetzt. Sie kommt auf E/E-Komponenten zur Ausführung und ist damit Teil von verteilten Elektrik/Elektronik (E/E)-Systemen, die eine Kunden- oder eine technische Funktionalität erbringen. Durch die Zunahme der verteilten Software-basierten Fahrzeugfunktionen ist heute die Kontrolle der Komplexität im Fahrzeug eine Kernherausforderung [54, 126].
Gleichzeitig müssen Fahrzeughersteller mit immer schnelleren Innovationszyklen umgehen [24, 54]. Es werden Plattform- und Modulstrategie-Ansätze mit dem Ziel eingesetzt, möglichst gemeinsame Komponenten über viele Fahrzeuge hinweg zu verwenden [168], der Komplexität zu begegnen und Entwicklungs-Zeit und -Kosten zu reduzieren [46].
In diesem Spannungsfeld ist insbesondere die E/E-Architektur des Fahrzeugs betroffen. Sie verbindet alle E/E-Komponenten der E/E-Systeme und ermöglicht deren Interaktion. E/E-Architekturen werden modelliert mit dem Ziel E/E-Architekturen zu entwerfen, zu bewerten, zu dokumentieren und abzusichern. Die E/E-Architekturmodellierung wird eingesetzt um eine möglichst optimale Lösung zu finden [69, 159], wobei sich die Entwurfskriterien oft diametral gegenüberstehen [171]. Bei der Auslegung der E/E-Architektur ist die Absicherung der Interaktion der E/E-Komponenten, die über Software und Hardware erfolgt, ausschlaggebend. Die E/E-Komponenten sind einerseits in E/E-Systemen und andererseits in E/E-Modulen der Modulstrategien organisiert. E/E-Module werden durch die Modulstrategien in der mechanischen Fahrzeugentwicklung als Teil eines vereinfachten, schnelleren Produktionsprozess definiert und weiterentwickelt. Die Evolution (Weiterentwicklung) der E/E-Module wird in den Modulstrategien ausschließlich Hardware-orientiert, d.h. ohne Betrachtung der Software und Auswirkung auf diese durchgeführt. Für die E/E-Architektur wird die Interaktion der Software heute lediglich nach Best Engineering Practice bewertet und wird somit ohne durchgängigen Prozess, Werkzeugunterstützung und Methodik durchgeführt. Damit sind sobald die Software mit einbezogen wird die \og Ziele, die mit der E/E-Architekturmodellierung verfolgt werden, heute nicht umsetzbar.
Diese Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen für die zukünftige E/E-Architekturauslegung in diesem Spannungsfeld zu identifizieren und ein Lösungskonzept anzubieten. Dafür wird ein neuer systemischer Ansatz verfolgt. Es wird für die E/E-Architekturmodellierung untersucht, wie E/E-Systeme und E/E-Module einbezogen und die Evolution von E/E-Systemen einschließlich der E/E-Module durchgeführt werden kann.
Als Lösungskonzept wird mit dieser Arbeit das E/E-System Produktlinien Engineering vorgestellt. Das Konzept wird im industriellen Umfeld ausgearbeitet und löst den heutigen modulorientierten Ansatz ab. Dabei wird der heutige Ansatz um Funktionen und E/E-Systeme erweitert und die Abhängigkeiten zwischen den Funktionen, E/E-Modulen und E/E-Systemen erfasst. Dadurch wird eine effiziente und modellübergreifende Wiederverwendung von E/E-Systemen ermöglicht. Zudem wird auf Methoden der Software-Entwicklung zurückgegriffen um die Evolution von E/E-Systemen zu realisieren: Zweigeteilt wird hierbei über eine neue Modellierungsebene eine Bewertung einer Evolution im E/E-Architekturmodell vorgenommen und mit einem neuen Modell für die Funktionen eine Umsetzung der Evolution im E/E-Architekturmodell ermöglicht. Für das E/E-System Produktlinien Engineering werden Anwendungsfälle erarbeitet und prototypisch im Werkzeug für die E/E-Architekturmodellierung PREEvision implementiert. Mit einer praktischen Fallstudie werden die Anwendungsfälle evaluiert.
Mit den Konzepten dieser Arbeit werden erstmals die Ziele für die E/E-Architekturmodellierung nicht nur für die Hardware erreicht sondern eine vollständige Betrachtung eines E/E-Systems einschließlich der funktionalen Anteile (Software) realisiert. Ein weiterer Beitrag dieser Arbeit ist eine Steigerung der Modellierungseffizienz für fast alle Anwendungsfälle.
Insgesamt wird das E/E-System Produktlinien Engineering in einem industriellen Kontext im Geschäftsbereich Mercedes-Benz Cars der Daimler AG erarbeitet und evaluiert. Es werden konkrete Fragestellungen und Probleme aus der Praxis der E/E-Architekturentwicklung für Kraftfahrzeuge behandelt und E/E-Systeme und Szenarien aus der E/E-Architektur-Domäne Chassis/Fahrerassistenz herangezogen. Produktiv eingesetzt werden einige Konzepte des E/E-System Produktlinien Engineerings im E/E-Plattform-Entwicklungsprojekt STAR3, das die nächste Generation der Mercedes-Benz
S-Klasse und nachfolgender Kraftfahrzeuge bei Mercedes-Benz Cars umfasst.