Die Fähigkeit, Visualisierungen von Daten zu verstehen, ist für Bildung, Arbeit und Leben im 21. Jahrhundert enorm wichtig geworden. In den meisten Fällen werden die Daten als Graphen visualisiert. Graphen stellen Mengen über eine "gepaart mit"-Beziehung dar, wobei größere Mengen durch längere Linien, höhere Balken oder mehr von einer anderen visuellen Dimension dargestellt werden. Trotz des Vorhandenseins von Graphen in allen Lebensbereichen haben groß angelegte Studien Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit von Schülern und Schülerinnen, Graphen zu verstehen, geäußert. Im Vergleich zu den langen Traditionen der kognitiven psychologischen Arbeit in den Bereichen Lesen und Mathematik ist relativ wenig darüber bekannt, wie Individuen Graphen verstehen. Diese Arbeit entwickelt ein kognitiv psychologisches und psychometrisches Modell, das die zugrunde liegenden Verständnisprozesse, Voraussetzungen und Einflussfaktoren der Fähigkeit, Graphen zu verstehen, abbildet.
Im Kapitel I verwies die Literaturrecherche auf zwei getrennte Forschungsstränge. Zum einen die Literacy-Forschung, die die Fähigkeit des Einzelnen beschreibt, realistische Probleme mit Graphen zu lösen (sog. Graphicacy-Forschung), und zum anderen die Forschung, die die zugrunde liegenden Prozesse des Graphenverstehens erklärt (sog. Graphenverstehensforschung). Um diese Forschungsstränge auf theoretischer und methodischer Ebene zu integrieren, wurde ein prozessorientiertes Modell der Graphicacy (eng. POMoG) entwickelt. Empirische Studien, die sich mit den verschiedenen Annahmen des POMoG, wurden in den Kapiteln II, III und IV vorgestellt.
Kapitel II untersuchte den Einfluss von grundlegenden numerischen Fähigkeiten (eng. BNAs) auf die Graphenleseleistung. Der Einfluss von BNAs erklärt Verständnisprozesse, da die jeweiligen BNAs mit bestimmten Prozesskomponenten des Graphenlesens verknüpft werden können. Subtraktion, Zahlenstrahlschätzung und konzeptionelles Wissen über arithmetische Operationen wurden anhand von Testdaten von 750 Schülern aus der Sekundarstufe als Einflussfaktoren auf die Graphenleseleistung ermittelt. Subtraktion und Zahlenstrahlschätzung unterstützen einzelne Prozesskomponenten, während konzeptionelles Wissen bei der Anwendung effizienter Problemlösungsstrategien hilft.
Kapitel III untersuchte den Zusammenhang zwischen Bearbeitungszeit, Text-Graphen-Übergängen und Verständniserfolg über Verständnisphasen hinweg. Text-Graphen-Übergänge können entweder als Integration von Informationen oder als Desorientierung interpretiert werden. In zwei Studien mit insgesamt 77 Studierenden wurde der Zusammenhang zwischen Bearbeitungszeit, Text-Graphen-Übergänge und Verständniserfolg untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass Bearbeitungszeit und Text-Graphen-Übergänge während der initialen Lesephase positiv und während der Aufgabenerledigungsphase negativ assoziiert sein können. Beim initialen Lesen bedeuten mehr Text-Graphen-Übergänge mehr Integration, während mehr Text-Graphen-Übergänge bei der Aufgabenbearbeitung auf Desorientierung hinweisen. Darüber hinaus moderiert das inhaltliche Wissen den Einfluss von Bearbeitungszeit auf den Verstehenserfolg während der initialen Lesephase und der Aufgabenerledigung. Dieser moderierende Effekt deutet darauf hin, dass inhaltliches Wissen entweder den anfänglichen Modellaufbau steuern oder den Schülern helfen kann, aufgabenrelevante Informationen zu finden.
Kapitel IV untersuchte die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Verständnisprozessen bei Verstehen von Text und Graphen. Zwei widersprüchliche Perspektiven über diese Abhängigkeitsbeziehung sind in der Literatur vorhanden. Die textzentrierte Perspektive besagt, dass das Verständnis des Graphen vom Verständnis des Textes abhängt. Die Mehrfachrepräsentationsperspektive besagt, dass das Verständnis des Textes und des Graphen getrennt voneinander Voraussetzung für ein integriertes Verständnis ist. Diese Perspektiven wurden mit den Antwortmustern von 50 Erwachsenen mit Hilfe der Wissensraumtheorie verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass die textzentrierte Perspektive eher für das Verständnis von Text und Graphen geeignet ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass arithmetische Fähigkeiten, Zahlenstrahlschätzung, konzeptionelles Wissen über arithmetische Operationen sowie Inhaltswissen das Verstehen von Graphen über verschiedene zugrundeliegende Mechanismen beeinflusst. Entweder unterstützen sie Prozesskomponenten oder sie helfen bei deren Steuerung der Prozesskomponenten. Des Weiteren wurde gezeigt, dass Prozessmaßnahmen je nach Verständnisphase unterschiedliche Verständnisprozesse anzeigen können. Schließlich ist das Verständnis von Graphen keine Voraussetzung für ein integriertes Verständnis von Text und Graphen. Die theoretischen, methodischen und praktischen Implikationen der Arbeit wurden in Kapitel V diskutiert.
The ability to understand visualizations of data has become immensely important for education, work, and life in the 21st century. In most cases, data is visualized as a graph. Graphs represent quantities via a ‘paired with’ relation. Graphs represent greater quantities by longer lines, higher bars, or more of some other visual dimension. Despite the presence of graphs in all areas of life, large-scale studies have raised concerns about students’ ability to understand graphs. Compared to the long traditions of cognitive psychological work on reading and mathematics, relatively little is known about how individuals understand graphs. This thesis builds a cognitive psychological and psychometric model of the underlying comprehension processes, prerequisites and influential factors for individuals’ ability to understand graphs.
A literature review revealed two separate research communities: first, literacy research describing individuals’ ability to solve realistic problems with graphs (i.e., graphicacy research), and second, research explaining the underlying processes behind graph comprehension (i.e., graph comprehension research). In Chapter I, a Process-Oriented Model of Graphicacy (POMoG) was developed to integrate these research communities on a theoretical and methodological level. Chapters II, III and IV presented empirical studies that address different assumptions of the POMoG.
Chapter II investigated the influence of basic numerical abilities (BNAs) on graph reading performance. The influence of BNAs explains comprehension processes because specific BNAs can be linked to specific process components of graph reading. Subtraction, number line estimation, and conceptual knowledge about arithmetic operations were determined to be influencing factors based on test data from 750 students in secondary education. Subtraction and number line estimation facilitate unique process components, while conceptual knowledge helps students use efficient problem-solving strategies.
Chapter III investigated the association between time-on-task, text-graph transitions and comprehension success across comprehension phases during the comprehension of a text and graph. Text-graph transitions can either be interpreted as the integration of information or as disorientation, the inability to find relevant information. The association between time-on-task, text-graph transition and comprehension success was examined in two studies with 77 university students in total. The results showed that time-on-task and text-graph transitions are positively associated during the initial reading phase and negatively associated during the task completion phase. Text-graph transitions indicate integration during initial reading and disorientation during task completion. Additionally, students’ content knowledge moderates the effect on time-on-task during initial reading and task completion. This moderating effect indicates that content knowledge can either control initial model construction or help students find task-relevant information.
Chapter IV investigated the dependency relationships between comprehension processes in the comprehension of a text and graph. Two contradicting perspectives about these relationships are present in the literature. The text-centered perspective states that comprehension of the graph depends upon comprehension of the text, and the multiple-representation perspective states that comprehension of the text and graph separately are both prerequisites for integrated comprehension. These perspectives were compared to the response patterns of 50 adults using knowledge space theory. The results showed that the text-centered perspective is more applicable to text-graph comprehension.
In sum, arithmetic fluency, number line estimation, conceptual knowledge about arithmetic operations, and content knowledge influence graphicacy via different underlying mechanisms. They either facilitate process components or help to control them. Further, it was demonstrated that process measures can be indicative of different comprehension processes depending on the comprehension phase. Finally, graph comprehension is not a prerequisite for integrated comprehension of a text and graph. The theoretical, methodological and practical implications of the thesis are discussed in Chapter V.