Inhaltszusammenfassung:
Ziel der Arbeit war es, die Anwendbarkeit des Cleavage-Konzepts von Lipset und Rokkan auf Ungarn zu prüfen und mögliche Erweiterungs- und Modifizierungsansätze zu diskutieren. In einem zweiten Schritt sollte die Relevanz tradierter gesellschaftlicher Konfliktlinien in der Posttransformationsphase in Ungarn geprüft werden.
Im Hinblick auf diese Anliegen wurden im ersten theoriegeleiteten Teil der Abhandlung die wissenschaftlichen Diskussionen über die Erklärungskraft des Modells auf die postkommunistischen Staaten skizziert und vor dem Hintergrund der Giddens´schen Funktionalismuskritik die Cleavage-Theorie kritisch hinterfragt. Dabei wurde gezeigt, dass die „klassischen“ soziostrukturellen Merkmale auf das ungarische Parteiensystem nicht anwendbar sind. Es ist notwendig, die Cleavage-Variablen zu historisieren und die methodische Dichotomisierung zu überwinden. Die historische Diskursanalyse hat deutlich gemacht, dass im Zeitraum von 1790 bis 1990 ungarnspezifische Konfliktstrukturen vorhanden sind, und dass diese von top-down-Prozessen gesteuert und kontrolliert werden, die sich schließlich auf die Allianzbildungen im Zentrum und in der Peripherie systematisch auswirken.
Die empirisch-analytische Längsschnittanalyse, bestehend aus der Analyse von historischen parteipolitischen Konfliktdiskursen und von wahlgeographi-schen Merkmalen auf das Wahlverhalten, erbrachte, dass es in Ungarn historische Kontinuitäten im regionalen Wahlverhalten entlang der ökonomischen und kulturellen Achse gibt, und dass die regionalen wahlgeographischen Daten mit den soziodemographischen Variablen funktional gleichwertig sind. Der Teil der Arbeit über die Prägekraft von historischen legacies im Sozialismus entkräftete die These, wonach die vorsozialistischen Konfliktstrukturen im Sozialismus eingefroren sind. Das hätte zur Folge, dass nach dem Systemwechsel eine „Stunde-Null“ in der Parteiensystementwicklung eintrat. Dagegen konnte aufgezeigt werden, dass die historischen Konfliktstrukturen nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene weiter wirkten, sondern auch die
Parteigründungen in der Spätphase des Sozialismus beeinflussten.
Die theoretischen Vorüberlegungen und die Ergebnisse der Diskursanalyse wie der empirischen Untersuchung erlaubten es, auf den Anwendungsfall Ungarn angepasste Cleavage-Dimensionen sowohl auf der ökonomischen (Urbanisten vs. Agrarpopulisten) wie auch der kulturellen Achse (Traditionalisten vs. Westernizer) zu bestimmen und die komitatsspezifischen wahlgeographischen Kontinuitäten von 1790 bis 1990 darzustellen. Die wahlgeographische Prüfung der rehistorisierten und angepassten Cleavage-Dimensionen anhand von ausgewählten Parlamentswahlen nach dem Systemwechsel ergab in der Mehrheit der untersuchten Komitate konstante regionale Muster im Abstimmungsverhalten der ungarischen Bevölkerung seit 1990, die über das hinausreichen. Die in der ungarischen Gesellschaft verankerten historischen Konfliktstrukturen sind für die derzeit dominanten Parteien insofern dienlich, als sie durch das wiederholte Reproduzieren der Konflikte die bestehenden Cleavages für ihre Machterhaltungszwecke instrumentalisieren. Zur Gefahr wird es, wenn im Zuge der für das Reproduzieren notwendigen Allianzbildungen die demokratischen Strukturen ausgehöhlt werden.