Inhaltszusammenfassung:
Hereditäre Optikusneuropathien sind eine wichtige Ursache für die Erblindung von Europäern im erwerbsfähigen Alter. Die autosomal dominante Optikusatrophie (ADOA) ist eine Subform der erblichen Optikusneuropathien, die hauptsächlich durch Mutationen in OPA1 entsteht, einem nukleären Gen, das eine große mitochondrial lokalisierte GTPase aus der Dynamin-Familie kodiert. Trotz bedeutender technischer Fortschritte bei der Exon-basierten Sequenzierung von Patienten-DNA und bei dem Verständnis jener Pathomechanismen die der ADOA zugrunde liegen, sind noch immer etwa 55 % aller klinisch diagnostizierten Fälle genetisch ungelöst. Wie bei den meisten erblichen Augenerkrankungen, ist derzeit keine Therapie für ADOA verfügbar. Die vorliegende Arbeit zeigt einen bislang für Mitochondriopathien nicht beschriebenen Pathomechanismus auf: Deep Intronic-Mutationen in OPA1. Dieser Mechanismus könnte zahlreiche, derzeit ungelöste Fälle von ADOA erklären. In insgesamt vier Familien konnte jeweils eine von zwei Deep Intronic-Mutationen in Intron 4b des OPA1-Gens identifiziert werden. Beide Mutationen erzeugen neue Spleißakzeptorstellen, die zu einer Exonisierung intronischer Sequenz führen (kryptisches Exon), wodurch ein vorzeitiges Stopp-Codon in der reifen mRNA entsteht. Transkripte, die einen solchen vorzeitigen Abbruch der Translation bewirken, werden durch den Mechanismus des Nonsense-Mediated mRNA Decay (NMD) abgebaut. Die Abfolge dieser Vorgänge konnte experimentell anhand qualitativer cDNA-Analysen (Spleißen des kryptischen Exons), der Puromycinbehandlung von Patientenfibroblasten (Induktion von NMD durch das vorzeitige Stoppcodon) und Pyrosequenzierung (selektiver Abbau mutanter Transkripte) nachgewiesen werden. Die reduzierten OPA1-Transkriptlevels korrelierten schließlich mit einer geringeren Menge an OPA1 Protein (nachgewiesen mittels Westernblot), was das Modell der Haploinsuffizienz bei OPA1-assoziierten Erkrankungen weiter stützt. Im Rahmen einer in vitro Studie an Patientenfibroblasten konnte das Fehlspleißen durch Transfektion mit modifizierten Antisense Oligonukleotiden (AON) wiederhergestellt werden. Diese wurden designt, um die OPA1 prä-mRNA gezielt an der kryptischen Akzeptorstelle (AC AON), bzw. dem vorhergesagten kryptischen Verzweigungspunkt (Branch Point, BP AON) zu binden. Hier korrelierte die Spleißkorrektur der mutanten Transkripte mit den eingesetzten Konzentrationen (bei einer höheren Effizienz des AC AON) und der Inkubationszeit, wobei der höchste gemessene Anteil von 55 % korrekt gespleißter mutanter Transkripte nach vier Tagen Inkubation und einer eingesetzten AON-Menge von 20 nmol/l lag. Die AON-Behandlung erhöhte auch das OPA1 Protein-Level und war vergleichbar effektiv in mehreren unterschiedlichen Patientenzelllinien. Damit repräsentieren die vorliegenden AON-Experimente die erste Antisense-basierte Spleißkorrektur einer Deep Intronic-Mutation in einer Mitochondriopathie. Der halbmaximale Effekt der Spleißkorrektur wurde nach etwa acht Tagen erreicht und nahm im Verlauf eines Monats weiter ab. Um eine Strategie für länger anhaltende therapeutische Effekte zu etablieren, wurde in einem Pilotversuch die Deep Intronic-Mutation c.610+364G>A in einem Minigene Reporter-Assay durch CRISPR/Cas9-vermitteltes Genome Editing angesteuert. Es konnte gezeigt werden, dass die hierbei präzise generierten Doppelstrangbrüche in der Nähe der Deep Intronic-Mutation durch nicht-homologe End-zu-End-Verknüpfung (Non-homologous End Joining = NHEJ) von der Zelle repariert werden, wobei Deletionen entstehen, die auch den kryptischen Akzeptor umfassen und dadurch das normale Spleißen zwischen den Exons 4b und Exon 5 wiederherstellen. Folglich zeigt diese Studie in einem „Proof-of-principle“ auf, dass die Deletion intronischer Sequenz in bestimmten Fällen zu einer Wiederherstellung der Genfunktion in OPA1 führen könnten. In Familie OAK 587 trat die Deep Intronic-Mutation c.610+364G>A in trans zu einer OPA1 Missense Variante (p.I437M) auf. Diese Variante ist weder homozygot noch heterozygot pathogen, wirkt jedoch, sobald sie in trans zu einer Loss-of-Function Mutation auftritt, als Modifier und erschwert die Erkrankung hin zu einem komplexen syndromalen Krankheitsbild, dem OPA1-assoziierten „Behr Syndrom“. Wie bei den erkrankten Geschwistern der Familie OAK 587 beschrieben, ist das Behr Syndrom charakterisiert durch eine frühkindlich einsetzende Optikusatrophie, Ataxie in der ersten Lebensdekade und zusätzliche fakultative Symptome wie periphere externe Ophthalmoplegie, Spastiken sowie zerebelläre Atrophie (unter anderem), ausgelöst durch bi-allelische OPA1 Mutationen (häufig unter Beteiligung des p.I437M Modifiers). Um die p.I437M-Substitution an dieser hochkonservierten Aminosäureposition zu untersuchen, wurde die homologe Mutation p.I400M in das murine Opa1-Gen auf einem Bacterial Artificial Chromosome (BAC) mittels BAC-Recombineering inseriert. Das modifizierte Konstrukt wurde in befruchtete murine Eizellen injiziert. Acht transgene Founder-Tiere und deren Nachkommen wurden auf DNA-, RNA- und Protein-Ebene, sowie durch Verhaltenstest und in Pränatalstadien eingehend untersucht. Durch Anwendung eines Pyrosequenzierungs-Assays zur allelischen Diskriminierung wurde die Zahl der Transgen-Kopien auf DNA- und RNA-Ebene bestimmt (1-5 Kopien). Westernblot-Analysen mit Lysat von unterschiedlichen Geweben transgenpositiver Tiere belegen eine Korrelation zwischen erhöhten OPA1 Proteinlevels und der jeweils entsprechend erhöhten Menge intakter mRNA-Transkripte. Um den bei Patienten beobachteten Phänotyp des Behr Syndroms genetisch nachzuvollziehen, wurden Tiere, die das Äquivalent einer funktionellen Transgenkopie exprimierten, in einem zweistufigen Verpaarungsschema mit einer bereits gut charakterisierten Opa1-Mauslinie verpaart, die ein heterozygotes Loss-of-Function Allel trägt. Obwohl die resultierenden Mäuse mit entsprechendem Behr-Genotyp lebensfähig waren, zeigten sie zu keinem der beobachteten Zeitpunkte neurologische Beeinträchtigungen. In gleicher Weise zeigten auch Tiere mit bis zu sechs Transgenkopien keine neurologischen oder behavioralen Auffälligkeiten, selbst in hohem Alter. Letzteres Mausmodell repräsentiert damit eine wichtige Plattform für die Untersuchung von Neuroprotektion bei verschiedenen Mitochondriopathien und Erkrankungen mit mitochondrialer Beteiligung, darunter Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson, für die bereits in vorangegangenen in vitro Studien eine mögliche positive Wirkung durch eine OPA1 Überexpression gezeigt wurde. Zusammenfassend identifiziert die vorliegende Arbeit erstmals Deep Intronic-Mutationen als Pathomechanismus in Mitochondriopathien und liefert Beweise für das Modell des OPA1-assoziierten Behr-Syndroms als bi-allelischer Erkrankung, bestehend aus einer benignen Missense-Mutation und einem trunkierenden Allel in trans. Darüber hinaus unterstreichen die Pilotstudien zur Ansteuerung von Deep Intronic-Mutationen in OPA1 mittels Antisense Oligonukleotiden und CRISPR/Cas9 die Durchführbarkeit therapeutischer Interventionen für diese Art von Mutation. Schließlich repräsentiert das erste Mausmodell mit starker OPA1-Überexpression einen wichtigen Ausgangspunkt zur Untersuchung der neuroprotektiven Effekte dieses Gens auf weitere Erkrankungen mit mitochondrialer Beteiligung.