Inhaltszusammenfassung:
Das zielgerichtete Ergreifen bildet beim Menschen eine wesentliche Grundlage
der Interaktion mit unserer Umwelt und somit des selbstständigen Lebens.
Gleichzeitig stellt dieser Vorgang hohe Anforderungen an die zentralnervöse
Verarbeitung: das erwünschte Ziel muss unter vielen möglichen Alternativen
ausgewählt werden, seine Größe und räumliche Lage aus der visuellen
Information ermittelt, und der Erstellung eines motorischen Programms
zugeführt werden. Dabei gelingt dem gesunden Menschen eine fließende
Bewegung mit adäquater Handformung, objektbezogener Griffskalierung und
genau dosiertem Krafteinsatz. Die Untersuchung der neuronalen Grundlagen
des visuell gesteuerten Ergreifens beim Gesunden bildet daher eine
unverzichtbare Grundlage zum Verständnis von neurologischen
Krankheitsbildern, die mit einer Einschränkung dessen einhergehen. Eine
dieser Störungen ist die optische Ataxie. Patienten mit einer optischen Ataxie
zeigen Defizite im zielgerichteten Ergreifen von Gegenständen, bei
vorhandener Fähigkeit diese Gegenstände zu erkennen und zu beschreiben
(Jakobson, Archibald, Carey, & Goodale, 1991; Jeannerod, 1986). Ein gängiges
Modell (M. A. Goodale & Milner, 1992) erklärt dieses Verhalten mit der dualen
Dissoziation der visuellen Informationsverarbeitung in zwei größtenteils
voneinander unabhängige Verarbeitungsströme. Der ventrale okzipitotemporale
Strom dient der Erkennung von Objekten, während der dorsale okzipitoparietale
Strom, nur anhand von visuell feststellbaren physikalischen Eckdaten, wie
Größe und Entfernung der Objekte, zur Steuerung und Planung des
motorischen Ergreifens dient. In einer Fallstudie (Jeannerod, Decety, & Michel,
1994) zeigte sich jedoch, dass eine Patientin mit optischer Ataxie ihr bekannte
Gegenstände, wie z.B. einen Lippenstift, präziser ergreifen konnte als abstrakte
zylindrische Objekte. Eine naheliegende Folgerung ist, dass die Identifikation
bekannter Gegenstände maßgeblich in die zerebralen Prozesse der
Greifbewegungssteuerung einfließen muss.
Im Rahmen unserer fMRT Studie haben gesunde junge Probanden bei
laufender funktioneller Magnetresonanzmessung nach bedeutungsvollen Alltagsgegenständen, wie z.B. einem Textmarker oder einer
Streichholzschachtel, und assoziationsfreien einfarbigen Holzblöcken griffen.
Dabei wurde der komplette Bewegungsablauf mit 2 MR-kompatiblen Kameras
aufgezeichnet und auf kinematische Basisparameter wie Reaktionszeit,
Bewegungszeit etc. untersucht. In einer methodologischen Untersuchung
konnten wir eine deutliche Auswirkung der Inklusion dieser Basisparameter in
die funktionelle Ganzgehirnanalyse feststellen und eine geeignete Strategie zur
Integration dieser Parameter in die fMRT-Analyse finden. Die darauffolgende
vergleichende Analyse des visuell gesteuerten Ergreifens ergab höhere
Signalunterschiede in den Gehirnarealen lateraler okzipitaler Kortex (LOC),
anteriorer intraparietaler Sulcus (aIPS) und ventraler prämotorischer Kortex
(PMv) beim Ergreifen von bedeutungsvollen Alltagsgegenständen im Vergleich
zum Ergreifen von in ihren physikalischen Dimensionen zu den
Alltagsgegenständen passenden einfarbigen Holzblöcken. Bei der
aufmerksameren Betrachtung der beiden Objektkategorien konnten wir stärkere
Signale beim Betrachten der Alltagsgegenstände im Vergleich zum Betrachten
der Holzblöcke nur im LOC feststellen. In den Regionen aIPS und PMv wurden
bei der aufmerksamen Betrachtung keine signifikanten Signalunterschiede
gefunden. Somit konnten wir den LOC erwartungsgemäß als maßgeblich in der
Objekterkennung involviertes Areal sowohl beim aufmerksamen Ansehen als
auch beim visuell gesteuerten Ergreifen feststellen. Währenddessen stellten
sich, anders als ausgehend vom Modell von Goodale und Milner (1992) zu
erwarten wäre, aIPS und PMv als greifrelevante Areale dar, die zur Integration
der aus der Objekterkennung hervorgegangenen erfahrungsbasierten
Informationen in die motorische Planung des Ergreifens beitragen.