Inhaltszusammenfassung:
Ausgangspunkt der Untersuchung war der Eindruck, dass die Einschätzungen von Art und Ausmaß aktueller antisemitischer
Phänomene in Berlin uneinheitlich ausfallen: Es finden sich ebenso skandalisierende wie auch neutralisierende
Bewertungen. Wie erklären sich derartige Unterschiede? Wer beobachtet das Ausmaß von Antisemitismus und mit welchen
Instrumentarien wird dabei gearbeitet? Weitere Fragen kamen hinzu: Welche Konzepte von Antisemitismus liegen
den Lageeinschätzungen zugrunde? In Berlin existieren viele Freie Träger und NGOs, die Bildungsarbeit zum Thema
Antisemitismus anbieten. Unter welchen institutionellen, organisatorischen und förderungspolitischen Rahmenbedingungen
erfolgt diese Arbeit? Wen erreichen diese Angebote und wie wird die Auseinandersetzung mit Antisemitismus
pädagogisch ausgestaltet? Was sollte dabei künftig berücksichtigt werden?
Bei der Beantwortung dieser Fragen werden zwei zentrale Aspekte in Rechnung gestellt: Es gibt, erstens, antisemitische
Erscheinungen – von Vorurteilen über sprachliche Äußerungen bis hin zu strafbaren Handlungen. Konstitutiv für antisemitische
Phänomene sind die Ebenen von Welterklärung und praktischer Diskriminierung, wobei das Verhältnis von
Ideologie und Praxis jeweils unterschiedlich ausfallen kann. Die Thematisierung von aktuellen antisemitischen Phänomenen
erfolgt, zweitens, vor dem Hintergrund des historischen Genozids an den Juden durch das nationalsozialistische
Deutschland heute unter der Geltung der staats- und gesellschaftspolitisch institutionalisierten Norm des Anti-Antisemitismus.
Antisemitismus ist deshalb angemessen nur in der Doppelperspektive auf Problem und Symbol zu betrachten.
Der hohe Symbolwert des Anti-Antisemitismus für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik wird deutlich
in der besonderen Aufmerksamkeit gegenüber antisemitischen Phänomenen und des mit ihnen assoziierten hohen
Gefahrenmoments (Exzeptionalismus). Verbunden ist dies häufig mit einem vereinheitlichenden Sprachgebrauch: Antisemitische
Phänomene, die sich hinsichtlich der Akteure, der Formen, der Kontexte und nicht zuletzt auch des strafrechtlichen
Gewichts und des moralischen Unwerts hochgradig unterscheiden, werden als Erscheinungsformen „des
Antisemitismus“, also eines in sich vermeintlich einheitlichen Problems interpretiert (Unifizierung).
Untersucht wurden drei Gruppen von Akteuren: staatliche Akteure, jüdische Organisationen und Freie Träger bzw. NGOs
mit Bildungsangeboten, die sich zwischen 2010 und 2013 in Berlin in besonderer Weise mit dem Thema Antisemitismus
befasst haben. Über Expert/inneninterviews und die Auswertung von publizierten Dokumenten wurden 33 Akteure
genauer untersucht. Ergebnisse werden für vier Bereiche vorgelegt:
Die Beobachtung von Antisemitismus erfolgt durch Innenbehörden und zivilgesellschaftliche Kräfte. Von keinem der
Akteure kann ein vollständiges Bild antisemitischer Phänomene vorgelegt werden: Dies geht teils auf die verwendeten
Antisemitismus-Konzepte zurück, teils auf uneinheitliche Erfassungskriterien, auf Unterschiede in den Beobachtungsfeldern
und schließlich auf Unwägbarkeiten in der Praxis. Während die Innenbehörden in der Erfassung und Bewertung
antisemitischer Ereignisse an relativ enge gesetzliche Vorgaben gebunden sind, beziehen gesellschaftliche Träger auch
„weichere“ Phänomene ein, die sich naturgemäß schwerer objektivieren lassen. Über das Ausmaß von Antisemitismus
und dominante Trägergruppen lassen sich deshalb nur mit großen Einschränkungen verbindliche Aussagen treffen.
Eine Systematisierung von Erfassungskriterien der zivilgesellschaftlichen Akteure sowie weitere Forschung ist daher
wünschenswert.
Die Untersuchung bestätigt den Ausgangseindruck, dass sich im Akteursfeld das Spektrum der maßgeblichen Konzepte,
Bewertungen und Kontextualisierungen des Antisemitismus zwischen den beiden Polen von pessimistischen und abwägenden
Positionen entfaltet. Summarisch-abstrahierenden Bewertungen stehen kontextualisierende und konkretisierende
Beschreibungen und Erklärungsversuche antisemitischer Phänomene gegenüber. Typisch für viele Bildungsanbieter
sind Unsicherheiten in der begrifflichen Bestimmung von Antisemitismus bis hin zum Fehlen expliziter Definitionen.
Gleichwohl wird häufig eine Sonderstellung des Antisemitismus gegenüber anderen Formen von Rassismus betont. In
den Widersprüchen und argumentativen Leerstellen dokumentiert sich der exzeptionelle Rang des Themas und damit
die dominante Prägung durch eine Kultur historischen Erinnerns. Die Auseinandersetzungen mit Antisemitismus erfolgt in fünf Bereichen: Neben Beobachtung/Dokumentation und Strafverfolgung
stehen der öffentliche anti-antisemitische Diskurs, Beratungsangebote und Bildungsarbeit. Ein Schwerpunkt
der Untersuchung liegt auf Bildungsmaßnahmen für junge Leute, die in Kooperationen zwischen freien Trägern/NGOs
und Schulen sowie Einrichtungen der Jugendhilfe durchgeführt werden. Hinsichtlich der konzeptionellen Anlage der Bildungsangebote
lässt sich ein Typ indirekter, kontextualisierender Befassung mit Antisemitismus vom Typ einer direkten,
abstrakten Behandlung unterscheiden. Problematisiert werden Methoden, die in Spannung zum Kern des Ausgangsproblems
Antisemitismus stehen oder die vorliegende Erfahrungen nur partiell rezipieren.
Die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Freien Träger sind in hohem Maße von den Förderprogrammen des Landes
und des Bundes geprägt. Hier besteht seit längerer Zeit der Widerspruch zwischen der faktischen Institutionalisierung
von schulergänzenden Bildungsangeboten durch freie Träger/NGOs und einer nur temporären Absicherung ihrer Leistungen.
Damit wird die Kontinuität praktischer Kompetenzen gefährdet und ein Sektor mit prekären Beschäftigungsbedingungen
geschaffen.
Die generellen Empfehlungen ziehen Konsequenzen aus den Analysen des Diskurses über Antisemitismus und plädieren
für einen reflektierten Sprachgebrauch, konkrete Gefahreneinschätzungen antisemitischer Phänomene sowie eine
selbstreflexive Perspektive aller Diskursteilnehmer/innen. Für die künftige Bildungsarbeit wird empfohlen, die konzeptionelle
und methodische Ausrichtung der Arbeit in noch stärkerem Maß auf die jeweiligen Zielgruppen und deren Fragen
abzustimmen und damit die Behandlung des Antisemitismusthemas zunehmend vom politisch-symbolischen Diskurs
zu entkoppeln. Der Exkurs zu Untersuchungen von Antisemitismus bei jungen Muslimen auf Bundesebene mündet in
die Empfehlung, Förderprogramme auf eine generelle, bevölkerungsweite Unterstützung von Informations- und Orientierungsbedarfen
auszurichten, um Gruppenstigmatisierungen zu vermeiden.
Der Serviceteil enthält Übersichten über die Akteure, die in der aktuellen Auseinandersetzung mit Antisemitismus aktiv
sind, und ein Verzeichnis von neueren Medien für die Bildungsarbeit.