Bis heute ist es üblich, dass kulturelle Gruppen des Neolithikums mit Hilfe einer einzigen Quellengattung, der Keramik, definiert werden. Solche anhand bestimmter Merkmale der Keramik erstellten Gruppen werden in der Praxis oft wie Gemeinschaften mit einer gemeinsamen kulturellen Identität behandelt. Die daran gelegentlich geäußerte Kritik hat bislang noch nicht in der Breite des Fachs zu einer veränderten Vorgehensweise geführt. Mit der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, kulturelle Beziehungen und Grenzen mittels einer von der Keramik unabhängigen, ebenso aussagekräftigen Quellengattung – nämlich der Grabsitte – neu zu definieren. Anschließend kommt es darauf an, die Ergebnisse der verschiedenen Quellengattungen zusammenzuführen, um zu einem möglichst umfassenden Bild der kulturellen Gruppen des Neolithikums zu kommen. Dieser Ansatz wird exemplarisch anhand des Frühneolithikums in Süd- und Südosteuropa verfolgt.
Der Theorieteil der Studie beginnt mit einer grundlegenden Betrachtung der spezifischen Eigenschaften der Grabsitte als archäologischer Quellengattung. Aufgrund der rituellen Prägung des Totenbrauchtums und der Eignung als Medium für das kulturelle Gedächtnis ist mit einem Potenzial für relative kulturelle Stabilität zu rechnen. Die Grabsitte kann also unter bestimmten Umständen eine im Vergleich zu anderen Bereichen der Kultur eher geringe Veränderungsgeschwindigkeit aufweisen. Besonders die Platzierung von Beigaben sowie die Niederlegung der Toten scheinen einer starken rituellen Prägung und damit auch einer besonderen Stabilität zugänglich zu sein. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich konkrete Hypothesen ableiten, welche spezifischen Entwicklungen in der Grabsitte am Übergang vom Mesolithikum zum Neolithikum je nach dem Charakter dieser Transition zu erwarten sind, so dass der Wandel in der Grabsitte für ein besseres Verständnis dieser Prozesse nutzbar gemacht werden kann.
Der empirische Teil der Studie stützt sich auf einen Katalog mit Informationen zu 472 Bestatteten von 56 archäologischen Fundplätzen. Zunächst wird die räumliche Verbreitung einer Vielzahl einzelner Merkmale der Grabsitte ausgewertet. Die so identifizierten Befundkreise erlauben anschließend in ihrer Synthese, eine kulturelle Gliederung des Untersuchungsgebietes anhand der Grabsitte aufzustellen. Dieser Gliederung wird schließlich die etablierte Einteilung kultureller Gruppen anhand der Keramik gegenübergestellt.
Das Ergebnis ist bemerkenswert, denn die beiden Kartierungen kultureller Gemeinsamkeiten und Grenzen weichen erheblich voneinander ab. Einige Grenzen scheinen zwar in beiden Quellengattungen auf. Andere Grenzen jedoch sind zwar in der Grabsitte erkennbar, aber nicht in der Keramik, und umgekehrt. Dieses Ergebnis ist neu, denn frühere Studien schienen nahezulegen, dass sich die keramische Gliederung mittels der Grabsitte regelmäßig bestätigen lasse. Allerdings nutzten diese Studien die Informationen aus der Grabsitte nur als sekundäre Quelle, um eine bereits getroffene Einteilung zu bestätigen oder zu widerlegen. Nun, da Keramik und Grabsitte als gleichwertige Quellengattungen für die Definition kultureller Gruppen genutzt werden, entsteht ein anderes Bild.
Die Ergebnisse unterstreichen daher, dass es nicht ausreichend ist, kulturelle Gliederungen auf der Basis einer einzigen archäologischen Quellengattung zu erstellen, weil so nur ein unvollständiges und verzerrtes Bild der vergangenen Verhältnisse entstehen kann. Die Komplexität von kultureller Identität bringt es mit sich, dass kulturelle Gruppen wo immer möglich anhand einer Gesamtschau aus mehreren archäologischen Quellengattungen definiert werden sollten. Übereinstimmende oder abweichende Ergebnisse verschiedener Quellengattungen können dann als Ausgangspunkt für vertiefte Betrachtungen dienen. Nur wenn wir bei der Definition kultureller Gruppen verschiedene archäologische Quellengattungen heranziehen, können wir zu einem möglichst umfassenden Bild vergangener Realitäten gelangen.
Geringfügig überarb. Version der Dissertation von 2013