Der Hirntod als Todeskriterium und Voraussetzung für eine Organtransplantation: Die Entwicklung der ethischen Diskussion unter Berücksichtigung aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse

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Zitierfähiger Link (URI): http://hdl.handle.net/10900/66365
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-dspace-663657
http://dx.doi.org/10.15496/publikation-7785
Dokumentart: Dissertation
Erscheinungsdatum: 2015
Sprache: Deutsch
Fakultät: 4 Medizinische Fakultät
4 Medizinische Fakultät
Fachbereich: Medizin
Gutachter: Clausen, Jens (Prof. Dr.)
Tag der mündl. Prüfung: 2015-10-20
DDC-Klassifikation: 610 - Medizin, Gesundheit
Schlagworte: Hirntod , Transplantatentnahme
Lizenz: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_ohne_pod.php?la=de http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/doku/lic_ohne_pod.php?la=en
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Inhaltszusammenfassung:

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, ob der Hirntod, trotz aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, den Tod des Menschen bedeutet und als Voraussetzung für eine Organentnahme haltbar ist. Dazu wird die Entwicklung und Problematik der Diskussion um das Hirntodkriterium aufgezeigt und verschiedene Argumentationslinien von Kritikern und Fürsprechern unterschiedlicher Fachgebiete dargestellt. Um ein besseres Verständnis des Gesamtkontextes und die Voraussetzung für eine sachliche Auseinandersetzung zu schaffen, wird zunächst eine historische Einordnung des Hirntodkriteriums und der Transplantationsmedizin sowie eine Erläuterung der medizinischen Aspekte des Hirntodes mit Überlegungen zur Anatomie, Pathophysiologie und Diagnostik vorgenommen. Hier wird bereits unter Darlegung und Erläuterung der medizinischen Tests der Hirntoddiagnostik deutlich, dass die Diagnose des Hirntodes nach den Richtlinien der BÄK zuverlässig gestellt werden kann. Eine Diskussion über die Aufnahme von weiteren Nachweisverfahren, wie z.B. der MRT oder der CTA, erscheint allerdings wünschenswert. Durch Darlegung der unterschiedlichen Positionen in der Hirntoddebatte wird gezeigt, dass meist sowohl Kritiker als auch Befürworter des Hirntodes als Todeskriterium die Transplantationsmedizin als notwendig und zulässig ansehen. Unumstritten scheint auch die Tatsache zu sein, dass der Hirntod irreversibel ist und einen Point of no return markiert. Keine Einigkeit besteht dagegen in der Frage, ob der Hirntod den Gesamttod des Menschen bedeutet. Die Vielfalt von Anschauungen spiegeln unterschiedliche Menschenbilder und Todesverständnisse wieder, die durch kulturelle, theologische, medizinische und philosophische Einflüsse geprägt sind. Durch das 2008 veröffentlichte White Paper ‘Controversies in the Determination of Death‘ entfacht der President´s Council on Bioethics erneut die Diskussion über das Hirntodkriterium. Auch der Deutsche Ethikrat debattiert 2012 darüber, ob die Hirntodkonzeption durch neue Erkenntnisse über das Lebensende ins Wanken gebracht wird. Wesentlicher Anlass für die erneute Auseinandersetzung des President´s Council on Bioethics mit der Hirntodkonzeption in dem 2008 veröffentlichten White Paper waren neue wissenschaftliche Erkenntnisse des Neurologen Alan Shewmon. Shewmon beschreibt integrative Funktionen, die im Körper von Hirntoten ablaufen können und nicht über das Gehirn vermittelt werden. Ein Beispiel hierfür sei die Fähigkeit zur Wundheilung und Bekämpfung von Infektionen durch die Interaktion von Immunsystem, Lymphsystem, Knochenmark und Gefäßendothelien. Nach Shewmons Auffassung verfüge der Organismus über keinen zentralen Integrator. Integration ergebe sich aus der Interaktion verschiedener gleichberechtigter Organe. Der Rat gesteht ein, dass die bisherige Begründung für die Toderklärung eines hirntoten Patienten nicht aufrechterhalten werden könne. Die Annahme der Desintegration und die Annahme, dass ein Hirntoter seinen intensivmedizinisch unterstützten Zustand über eine gewisse Zeitspanne nicht aufrechterhalten kann, seien widerlegt. Die Hirntodkonzeption lässt sich jedoch nach der Mehrheitsmeinung des President´s Council durch ein anderes Konzept von Ganzheit nach wie vor gut begründen, in dem das Kriterium der Integration aufgegeben und die Intuition unterstützt wird, dass der Körper mit Eintritt des Hirntodes kein organismisches Ganzes mehr sei. Ob der Organismus ein Ganzes verbleibe, hänge davon ab, ob die vitale Tätigkeit des Organismus eines Menschen weiter fortdauert. Die fundamentale Tätigkeit eines lebendigen Organismus drücke sich in drei Fähigkeiten aus: 1. Offenheit für die umgebende Welt, 2. die Fähigkeit so auf die Welt einzuwirken, dass der Organismus bekommt was er braucht und 3. das verspürte Bedürfnis, welches den Organismus antreibt so zu handeln, um zu bekommen was er benötigt und was ihm seine Offenheit für die Welt als verfügbar anzeigt. Ist die vitale Tätigkeit, also der Selbsterhalt, erzielt durch den bedürfnisgetriebenen Austausch des Körpers mit der Umwelt wie bei einem Hirntoten zerstört, so könne der Schluss gezogen werden, dass der Organismus gestorben ist. Bei der in dieser Arbeit durchgeführten Prüfung, ob das Hirntodkriterium aufrechterhalten werden kann, wird gezeigt, dass der Zustand des Hirntodes ver-schiedene Charakteristika aufweist, die ihn unverwechselbar machen: 1. Beim Hirntoten sind Bewusstseinsfähigkeit, geistige Fähigkeiten, Reaktionsvermögen auf Reize aus der Umwelt und somit die Offenheit für die Welt erloschen. 2. Die Autonomie, d.h. die Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, ist verloren. 3. Die Selbsttätigkeit und -steuerung sind soweit aufgehoben, dass eine zweckgerichtete Bedürfnisbefriedigung und ein zielgerichteter Antrieb zum Handeln fehlen. 4. Die Möglichkeit der Selbstgestaltung und des Ausdrucks der eigenen charakteristischen Individualität bleiben dem hirntoten Patienten verweigert. 5. Der Zustand ist irreversibel, der Hirntote hat keine eigens gestaltbare Zukunft. Diese Eigenschaften in ihrer Gesamtheit sind nur bei einem hirntoten Menschen zu finden, sie markieren das Ende des Organismus als Ganzes und erlauben somit, obwohl einzelne integrative Fähigkeiten im Hirntoten aufrechterhalten sein können, dass der Hirntod als Tod des Menschen anerkannt werden kann. Im Rahmen der Arbeit wird deutlich, dass das Töten für eine Organentnahme ethisch abgelehnt werden muss. Eine zum Tod führende Organexplantation bei einem lebenden Menschen ist weder mit dem Strafrecht noch mit dem ärztlichen Berufsethos vereinbar. Befürwortet man die postmortale Organspende, so benötigt man ein plausibles Todeskriterium als Voraussetzung für eine Organexplantation. Es wird gezeigt, dass das Hirntodkriterium bezüglich seiner objektiven und eindeutigen Feststellung des Todeszeitpunktes anderen Kriterien überlegen ist. Der Zustand des Hirntodes wird definitiv nicht mehr verlassen, durch den geforderten Funktionsverlust des gesamten Gehirns ist eine explizite Zuordnung von Hirnfunktionen an bestimmte Strukturen nicht notwendig und eine Abgrenzung zu anderen Defektzuständen kann zuverlässig getroffen werden. Durch die Auswertung von Literatur in Bezug auf die Auswirkungen der Hirntoddebatte auf unterschiedliche Personengruppen und der mit der Transplantationsmedizin verbundenen Herausforderungen wird dargestellt, wie wichtig das Wissen bzw. die inhaltliche Weiterbildung zum Thema Hirntod und Organtransplantation, insbesondere von medizinischem Personal und Angehörigen hirntoter Patienten, ist. Durch die Einordnung des eigenen Standpunktes können Ambivalenzen zum Status des Hirntoten und seiner Behandlung besser eingeordnet und verstanden werden und somit zu einer Reduktion des Unbehagens im Umgang mit dem Hirntoten führen. Wie sich in der 2015 veröffentlichten Stellungnahme des Deutschen Ethikrates erneut zeigt, bleibt die Frage, ob mit dem Hirntod der Tod des Menschen eingetreten ist, nach wie vor auch unter Experten ein umstrittenes Thema. Angesichts dessen, dass es immer unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Hirntodkonzeption geben wird, ist eine stetige transparente Aufarbeitung der Diskussion und die Aufklärung der Bevölkerung über den Hirntod und die Organtransplantation anzustreben. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass mehr Vertrauen in die Transplantationsmedizin geschaffen werden kann und jeder Mensch eine eigene Haltung zu diesem Themengebiet entwickeln kann.

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