Inhaltszusammenfassung:
Die proximale Humerusfraktur gehört zu den häufigsten Frakturen des Menschen. Bisher fehlt jedoch ein Konsens über die optimale Therapie dislozierter proximaler Humerusfrakturen. Es hat sich gezeigt, dass kopferhaltende Verfahren zu besseren funktionellen Ergebnissen führen als der Humeruskopfersatz. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts werden zunehmend winkelstabile Platten eingesetzt, die in biomechanischen Studien bereits ihre Überlegenheit bewiesen haben. Die klinischen Ergebnisse konnten dies noch nicht bestätigen. Bislang liegen jedoch hauptsächlich kurzfristige Nachuntersuchungsergebnisse vor. Ziel der vorliegenden Studie war deshalb die Evaluation der klinischen und radiologischen Langzeitergebnisse von Patienten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen sechs Jahre und mehr nach winkelstabiler Plattenosteosynthese proximaler Humerusfrakturen. Es wurden 77 Patienten (41 Frauen, 36 Männer; durchschnittliches Alter bei Unfall 54 Jahre; 28 2-, 38 3- und 11 4-Teile-Frakturen nach Neer bzw. 28 A-, 30 B- und 19 C-Frakturen nach AO) nachuntersucht. Mit Hilfe des Constant-, Neer-, UCLA-, DASH- und Oxford-Shoulder-Scores sowie dem EuroQol und dem SF-36 wurden die Schulterfunktion im Seitenver-gleich sowie die Lebensqualität erfasst. Außerdem erfolgte eine radiologische Beurteilung der knöchernen Anatomie und der Rotatorenmanschette. Insgesamt erreichten 78% der Patienten gute bis sehr gute funktionelle Ergebnisse im Constant-Score, im Mittel 79 Punkte. Der Anteil guter bis sehr guter Ergebnisse lag im Neer-Score bei 77,9%, im UCLA-Score bei 80,6% und im Oxford-Shoulder-Score bei 94,9%. Im DASH-Score wurden durchschnittlich sehr gute 11,9 Punkte erreicht. Die mittels EuroQol und SF-36 ermittelte Lebensqualität der Patienten war nach proximaler Humerusfraktur nicht schlechter als die der verglichenen Normalkollektive. Es wurden 55 Folgeoperationen bei 46 Patienten (59,7%) durchgeführt, darunter 44 Metallentfernungen (57,1% der Patienten), davon 15 elektiver Art. Die Indikationen zur Revision waren: Hämatom (n = 1; 1,3%), Infektion (n = 4; 5,2%), sekundäre Dislokation (n = 1; 1,3%), Schraubenperforation (n = 10; 13,0%), Implantat-bedingtes Impingement (n = 13; 16,9%) oder Weichteilbedingtes Impingement (n = 6; 7,8%). Die Auswertung der Röntgenaufnahmen zeigte bei 40 Patienten (51,9 %) ein anatomisches Repositionsergebnis und bei 26 (33,8%) lediglich geringe Achsabweichungen in einer Ebene oder Fehlstellung eines Tuberkulums, bei 16 (20,8%) eine sekundäre Dislokation, bei zehn (13,0%) Zeichen einer Omarthrose und bei 17 (22,1%) Zeichen einer Humeruskopfnekrose. Sonographisch konnte bei 16 Patienten (20,8%) ein Defekt der Rotatorenmanschette diagnostiziert werden. Es konnten signifikante Zusammenhänge zwischen dem funktionellen Endergebnis und einer sekundären Dislokation, der verbliebenen Fehlstellung bei Ausheilung, einer Schraubenperforation, einer Humeruskopfnekrose und einer Rotatorenmanschettenruptur gezeigt werden. Für die langfristigen funktionellen Ergebnisse nach winkelstabiler Plattenosteosynthese von dislozierten proximalen Humerusfrakturen ist also weniger die Schwere der Fraktur, sondern vielmehr die Qualität der initialen operativen Frakturversorgung, der Therapieverlauf und das Ausbleiben etwaiger Komplikationen (v. a. Schraubenperforation) von Bedeutung. Zusammenfassend finden sich in der vorliegenden Studie vielversprechende langfristige funktionelle Ergebnisse trotz vergleichsweise hoher Komplikationsraten. In der Zukunft bedarf es der Entwicklung von Strategien zur Komplikationsvermeidung und weiterer Studien an großen Patientenkollektiven zum direkten Vergleich mit alternativen kopferhaltenden Therapieverfahren unter Berücksichtigung der Frakturklassifikation.