Inhaltszusammenfassung:
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts formulierte die Gestaltpsychologie bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die der menschlichen Wahrnehmung zu Grunde liegen. Die sog. Gestaltgesetzte besagen, dass einzelne Elemente mit systematischen Gemeinsamkeiten eher als ganzheitliche Entität aufgefasst werden denn als Summe einzelner Teile. Die besondere Bedeutung der Gestaltwahrnehmung wird durch das neuropsychologische Störungsbild Simultanagnosie deutlich. Patienten, die an dieser Störung leiden, haben die Fähigkeit einzelne Elemente zu einer übergeordneten Einheit zu verbinden verloren. Normalerweise treten Symptome der Simultanagnosie nach bilateralen temporo-parietalen Gehirnläsionen auf. Die genaue Neuroanatomie der Gestaltwahrnehmung und klar definierte Funktionen von Gehirnarealen, die bereits mit globaler Wahrnehmung in Verbindung gebracht werden konnten, sind jedoch noch nicht eindeutig definiert. Darüber hinaus ist auf Verhaltensebene wenig über Funktionen der visuellen Wahrnehmung, z.B. hinsichtlich des Phänomens der Größenkonstanz, im Zusammenhang mit Gestaltwahrnehmung bekannt.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Erforschung neuronaler und behavioraler Mechanismen der Gestaltwahrnehmung mit Hilfe psychophysischer und bildgebender Methoden. In bisherigen Bildgebungsstudien konnte die temporo-parietale Übergangsregion (temporo-parietal junction, TPJ) als neuronales Korrelat der Gestaltwahrnehmung identifiziert werden. Die genaue Bedeutung dieser Hirnregion für die Gestaltwahrnehmung ist jedoch noch unklar, wobei bisher vor allem Aufmerksamkeits- und reine Wahrnehmungsfunktionen damit in Verbindung gebracht werden konnten. Die Bildgebungsstudien dieser Arbeit konzentrieren sich daher vornehmlich auf perzeptuelle Funktionen bilateraler TPJ-Areale.
In der ersten Studie dieser Arbeit wurden spezifische Eigenschaften der temporo-parietalen Übergangsregion für die Gestaltwahrnehmung untersucht. Die Motivation für diese Studie wurde von Beobachtungen bei Simultanagnosie-Patienten abgeleitet, die vor allem Schwierigkeiten bei der Verarbeitung neuartiger komplexer Reizanordnungen haben, aber geläufige komplexe visuelle Inhalte erkennen können. Daher wurde die Hypothese untersucht, dass bilaterale TPJ-Regionen hauptsächlich in die Verarbeitung neuartiger komplexer Strukturen involviert sind. Zur Untersuchung dieser Hypothese wurde eine Lernstudie durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurde die Wahrnehmung für komplexe Gestalt-Stimuli trainiert und die neuronalen Mechanismen der Gestaltwahrnehmung vor und nach dem Training mittels funktionaler Magnet Resonanztomographie (fMRT) gemessen. Es zeigte sich, dass hauptsächlich das anteriore rechtshemisphärische TPJ-Areal signifikant auf Wahrnehmungstraining reagierte. Dieses Ergebnis bestätigte die Hypothese, dass TPJ hauptsächlich für die Verarbeitung neuartiger Objekt-Arrangements zuständig ist bzw. komplexe Stimuli mit hohem Bekanntheitsgrad über andere neuronale Kanäle verarbeitet werden.
In der zweiten Studie wurde der Beitrag bilateraler TPJ-Areale auf die Gestaltwahrnehmung durch die Untersuchung von Schach-Experten realisiert. Dabei wurden TPJ-Signale von Schach-Experten und Novizen bei der Betrachtung komplexer Schach-Arrangements mittels fMRT gemessen. Auf diese Weise war es möglich neuronale TPJ-Aktivierungen während einer ganzheitlichen Wahrnehmung in Experten und einer seriellen Strategie in Novizen zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigten stärkere Signale in bilateralen TPJ-Regionen für Experten im Vergleich zu Novizen während der Betrachtung komplexer Schach-Arrangements. Mit Hilfe dieses Ansatzes konnten einige Störvariablen, die bei der Erforschung der Gestaltwahrnehmung auftreten, wie z.B. Unterschiede zwischen lokalen und globalen Stimuli hinsichtlich Größe oder räumlicher Frequenz, umgangen werden. Darüber hinaus weisen der Aufbau der Stimuli und die verwendeten Testparadigmen auf TPJ-Einflüsse während der perzeptuellen Verarbeitung komplexer Stimuli hin und sprechen gegen TPJ-gesteuerte Aufmerksamkeitsmechanismen der perzeptuellen Auswahl von globalen oder lokalen Ebenen.
Die dritte Studie untersuchte perzeptuelle Eigenschaften der Größenkonstanz im Kontext der Gestaltwahrnehmung. Während die Größenkonstanz ein gut erforschtes Phänomen im Rahmen der Objektwahrnehmung darstellt, ist bisher nicht bekannt, ob dieser visuelle Mechanismus auch globale Gestalt-Stimuli betrifft. Diese Fragestellung wurde durch ein Experiment, in dem globale Gestalt-Stimuli in einer visuellen Szene mit 3D-Perspektive platziert wurden, untersucht. Es zeigte sich, dass auch die Verarbeitung globaler Stimuli Mechanismen der Größenkonstanz unterliegt. Effekte der Größenkonstanz auf die Wahrnehmung globaler Gestalt-Stimuli weisen auf eine Hierarchie der visuellen Verarbeitung hin, der zufolge eine übergeordnete globale Szene auch visuelle Inhalte beeinflusst, die selbst der Gestaltwahrnehmung unterliegen.
Zusammenfassend zeigen die dargestellten Arbeiten, dass das TPJ-Areal hauptsächlich an der perzeptuellen Verarbeitung komplexer visueller Reizanordnungen beteiligt ist und dabei speziell für neuartige Reizkonfigurationen zuständig ist. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Gestaltwahrnehmung selbst Top-down-Prozessen der visuellen Größenkonstanz unterliegt und die globale Wahrnehmung einer visuellen Szene lokale Prozesse der Gestaltwahrnehmung beeinflussen kann.
Abstract:
Principles of Gestalt perception have fundamentally influenced our
understanding of visual cognition. In the past century, Gestalt psychologists
postulated that the human brain determines single elements with common
features as a single entity rather than a sum of separate parts. The
importance of Gestalt perception is emphasized by the neuropsychological
syndrome simultanagnosia. Patients suffering from this condition have lost the
ability to integrate single elements into a superior entity. Simultanagnosia is
usually associated with bilateral posterior temporo-parietal brain lesions but
the exact neuroanatomy of global Gestalt perception and functions of areas
already associated with this perceptual quality are still a matter of lively
debates. Further, not much is known about behavioral characteristics of wellexplored
perceptual processes, like visual constancy, in the context of Gestalt
perception.
The present work aimed at investigating neuronal and behavioral properties of
Gestalt perception applying psychophysical methods and functional magnetic
resonance imaging (fMRI). In previous neuroimaging studies the temporoparietal
junction (TPJ) was identified as a crucial brain structure involved in
Gestalt perception. However, its specific role in Gestalt perception is still
unclear. The functions attributed to this brain region range from attentional
selection between the local and the global level of hierarchically organized
stimuli to mere perceptual mechanisms of global processing. The
neuroimaging studies included into this work explore mainly TPJ related
perceptual functions.
In the first study, neuronal properties of TPJ in Gestalt perception were
investigated. Based on observations in simultanagnosia patients that are able
to perceive familiar complex stimulus arrangements but fail in recognition of
novel stimulus configurations, it was hypothesized that TPJ areas mainly
contribute to processing of novel object arrangements. A training study was
conducted where subjects had to learn the perception of complex stimulus
arrangements in order to examine this hypothesis. Neuronal processes of
Gestalt perception in bilateral TPJ regions were assessed pre- and posttraining.
It was demonstrated that an anterior right hemispheric TPJ region
responded to perceptual training with global stimuli. The results indicated
fundamentally changed TPJ contributions with increasing familiarity
suggesting a different strategy of the brain for processing of highly familiar
object arrangements.
In the second study, involvements of bilateral TPJ areas in global processing
were investigated with an approach taking advantage of visual expertise.
During presentation of specific chess arrangements TPJ signals of chess
experts and novices were examined. As a consequence, it was possible to
compare neuronal TPJ correlates for holistic perception in experts and serial
perceptual strategies in novices. The result showed higher signals in bilateral
TPJ areas for chess experts compared to novices while inspecting specific
chess configurations. With this method a lot of the typical stimulus confounds
in research about Gestalt perception, like size differences or differences in
spatial frequencies between global/local stimulus levels, were avoided.
Moreover, the nature of the stimuli and experimental tasks argues for a TPJ
involvement during perception rather than for functions of attentional
selection.
In the third study perceptual properties of visual size constancy were
investigated in the context of Gestalt perception. While size constancy is a
well-known phenomenon for regular objects this visual mechanism has not
been investigated for stimuli forming a global Gestalt. Therefore, the
perceptual performance for a global stimulus arrangement placed on different
locations of a visual scene containing a 3D perspective was tested. For the
first time, influences of size constancy were demonstrated also for global
stimuli. Effects of size constancy on Gestalt perception suggest a perceptual
hierarchy of global scenes even on stimuli that have to be integrated
themselves.
Taken together the results show that the TPJ is involved in mere perceptual
processes of Gestalt perception and that an anterior section of this structure
has a specific role in processing of novel object arrangements. It was also
demonstrated that Gestalt perception itself underlies visual top-down
processes of visual constancy suggesting a superior role of global scene
processing influencing even local grouping processes.