Inhaltszusammenfassung:
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen des frühen und mittleren Erwachsenenalters und ist gekennzeichnet durch entzündliche Entmarkungsherde im Gehirn und Rückenmark. In den vergangenen Jahren konnten neben entzündlichen Prozessen zunehmend neurodegenerative Veränderungen und axonale Schädigung als Kennzeichen der MS-Pathologie herausgearbeitet werden. Im Krankheitsbild der MS zeigt sich insbesondere ein Verlust von weißer und grauer Substanz in kortikalen Bereichen, der im Zusammenhang mit dem Auftreten und der Schwere kognitiver Funktionseinbußen steht. Da neuropsychologische Untersuchungen bei älteren Patienten mit MS nicht im Fokus der empirischen Forschung stehen, sind in Bezug auf das Ausmaß und die Art der kognitiven Funktionseinbußen noch viele Fragen ungeklärt. Insbesondere ist umstritten, ob die unterschiedlichen klinischen Verläufe der MS zu unterschiedlichen kognitiven Defiziten führen oder diese möglicherweise zur Klassifizierung herangezogen werden können. Letzteres ist insbesondere dadurch von Bedeutung, weil gerade bei älteren MS Patienten die Entwicklung einer Alzheimer Demenz (AD) nicht ausgeschlossen werden kann, da das Alter der größte Risikofaktor für die Entwicklung einer solchen Erkrankung darstellt.
Sowohl Patienten mit einer amnestischen leichten kognitiven Störung (aMCI) als auch Patienten mit AD und MS zeigen axonale Schäden und Neurodegeneration in Hirnregionen, die für höhere kognitive Prozesse von Bedeutung sind. Ähnlich wie bei der Alzheimer Erkrankung nehmen diese neuropathologischen Prozesse im Laufe der Zeit zu und scheinen gerade bei chronischen MS-Verläufen zu einer Zunahme der kognitiven Defizite zu führen.
Die hier vorgestellten Untersuchungen hatten das Ziel, MS-assoziierte kognitive Defizite von denen bei der Alzheimer Erkrankung zu differenzieren und verlaufsformabhängige Defizitmuster aufzuzeigen. Dafür wurde eine alters-, bildungs- und geschlechter-homogene Gruppe älterer Patienten mit schubförmig-remittierender MS (RRMS), sekundär progredienter MS (SPMS), aMCI und beginnender AD neuropsychologisch untersucht. Wir verwendeten dafür das Autobiographische Gedächtnisinterview (AMI) und die deutsche Version der Consortium to Establish a Registry for Alzheimer's Disease (CERAD) Testbatterie.
Bei Patienten mit SPMS zeigten sich erhebliche Defizite im freien Abruf episodischer Gedächtnisinhalte, die mit Defiziten in den Exekutivfunktionen assoziiert waren und nicht auf eine Konsolidierungsstörung hindeuteten, da die Rekognitionsleistung, im Gegensatz zu Patienten mit aMCI, erhalten war.
Des Weiteren zeigte sich bei SPMS, beginnender AD und aMCI, jedoch nicht bei RRMS ein zeitlicher Gradient in der Erinnerungsfähigkeit an autobiographisch-episodische Gedächtnisinhalte - weiter zurückliegende Ereignisse konnten besser abgerufen werden als kürzer zurückliegende Ereignisse. Im Gegensatz jedoch zu den Patienten mit aMCI und beginnender AD zeigten weder Patienten mit SPMS noch RRMS Defizite im Abruf autobiographisch-semantischer Gedächtnisinhalte.
Zusammenfassend weisen unsere neuropsychologischen Ergebnisse auf unterschiedliche Krankheitsmechanismen in den MS-Subtypen hin und ermöglichen außerdem eine krankheitsspezifische Differenzierung der kognitiven Defizite zwischen MS und Alzheimer. Neuropsychologische Testverfahren können daher dazu beitragen, Alzheimer-typische kognitive Veränderungen bei MS Patienten zu erfassen. Gedächtnisdefizite lassen sich bei diesen Patienten auf Einschränkungen der Exekutivfunktionen zurückführen, die den freien Abruf betreffen, während bei der Alzheimer-Erkrankung sowohl Abruf- als auch Speicherdefizite zu beobachten sind. Außerdem lassen sich bei Patienten mit SPMS Defizite im autobiographisch-episodischen Gedächtnis möglicherweise auf neurodegenerative Prozesse in ähnlichen Hirnarealen zurückführen, wie sie auch bei aMCI und beginnender AD zu beobachten sind.
Abstract:
Multiple sclerosis (MS) is one of the most common neurological diseases of the early and middle adulthood and is characterized by inflammatory demyelination and axonal injury in the brain and spinal cord. Whereas inflammatory demyelination traditionally has been seen as the main disease process in MS, axonal damage or loss is receiving increasing attention. In MS brain atrophy affects extensively the white matter and cortical and deep grey matter structures and is closely related to the presence and severity of cognitive impairment. Since neuropsychological examination of elderly patients with MS is not a main focus of current research there are many unresolved questions regarding magnitude and pattern of deficits in this disease. Particularly controversies exist whether deficits are indicative of clinical course and subtype classification. Moreover, Alzheimer’s disease-related pathology cannot be ruled out in elderly MS patients as advancing age is the most significant risk factor for developing Alzheimer dementia (AD). Both patients with amnestic mild cognitive impairment (aMCI) or dementia due to Alzheimer's disease and MS show axonal loss and neurodegeneration in cortical areas that are involved in cognitive processing. Similar to Alzheimer's disease these neuropathological changes worsen over time and seem to increase cognitive deterioration in long-term patients with progressive MS subtypes.
The presented work aimed to distinguish MS-related cognitive impairment from Alzheimer's disease-related deficits and to characterize disease-dependent deterioration patterns by comparing age-, education-, and gender-matched groups of elderly patients with relapsing-remitting MS (RRMS), secondary progressive MS (SPMS), aMCI, or early AD using the Autobiographical Memory Interview (AMI) and the German version of the Consortium to Establish a Registry for Alzheimer's Disease (CERAD) test battery.
We found substantial episodic memory deficits in the long-term course of SPMS that were associated with deterioration of executive function, but not impairment of memory storage as recognition was preserved in SPMS in contrast to the patients with aMCI.
Furthermore, patients with SPMS, AD, and aMCI, but not with RRMS, exhibited a pattern of episodic autobiographical memory impairment that followed Ribot's Law; older memories were better preserved than more recent memories. In contrast to aMCI and AD, neither SPMS nor RRMS were associated with semantic autobiographical memory impairment.
In summary, our neuropsychological results point at distinct disease mechanisms in different MS subtypes and differentiate between MS-related cognitive impairment and AD-related deficits. Neuropsychological testing may contribute to identify AD-related pathology in SPMS patients since MS-related episodic memory impairment due to deteriorated executive function can be distinguished from AD-related encoding and storage deficits. Moreover, possibly due to neurodegenerative processes in functional relevant brain regions deficits in episodic autobiographical memory are affected in long-term patients with SPMS similarly to that seen in patients with AD or aMCI.