Inhaltszusammenfassung:
Die Anorexia nervosa (AN) ist eine schwerwiegende psychische Störung, deren Kernpathologie in einem selbst herbeigeführten substantiellen Untergewicht infolge von Nahrungsrestriktion besteht. Ätiologische Modelle der AN nehmen an, dass kognitive Faktoren eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung der Essstörung spielen und möglicherweise auch schon zu deren Entstehung beitragen. Grundlagenwissenschaftlich ist jedoch bislang recht wenig bekannt über kognitive Charakteristika und Prozesse der Nahrungsverarbeitung bei der AN. Gleichzeitig stellt sich die Befundlage uneinheitlich dar: Es wurden sowohl ein früher Aufmerksamkeitsbias (Vigilanz) als auch Aufmerksamkeitsabwendung (Vermeidung) gegenüber Nahrungsreizen bei Patientinnen mit Essstörungen berichtet.
Die vorliegende Dissertation greift dieses Forschungsthema auf. Ziel der empirischen Studie war es, die in der Angstforschung gut belegte Vigilanz-Vermeidungs-Hypothese bezüglich der Verarbeitung von Nahrungsinformation bei Patientinnen mit AN zu überprüfen. Hierzu war es besonders wichtig, den Zeitverlauf der Aufmerksamkeitszuwendung präzise abzubilden. Im empirischen Teil wurde daher als Weiterentwicklung bisheriger experimenteller Paradigmen und Untersuchungsmethoden die erste Eye Tracking Studie in der AN-Forschung durchgeführt. Eye Tracking ist ein nicht-invasives Verfahren zur kontinuierlichen und zeitlich hochauflösenden Registrierung von Blickbewegungen.
Im Rahmen der experimentellen Untersuchung wurden einer Gruppe von n=19 AN-Patientinnen, n=20 gesunden Kontrollprobandinnen ohne Nahrungskarenz und n=18 gesunden Kontrollprobandinnen nach mehrstündiger Nahrungskarenz Paare aus einem Nahrungs- und einem Kontrollreiz zur freien visuellen Exploration dargeboten. Die Blickbewegungen der Studienteilnehmerinnen wurden während dieser freien Exploration der Reizpaare mittels Eye Tracking aufgezeichnet.
Weder die gesunden Frauen noch die AN Patientinnen zeigten einen frühen Aufmerksamkeitsbias gegenüber Nahrungsreizen, die AN Patientinnen zeigten jedoch im Vergleich zu den Kontrollprobandinnen eine überdauernde Vermeidung der Nahrungsreize. Die Aufmerksamkeitszuweisung zu den Nahrungsreizen war am stärksten in den Kontrollprobandinnen nach mehrstündiger Nahrungskarenz ausgeprägt. Das Ausmaß der Nahrungsmeidung war bei AN Patientinnen negativ mit dem BMI als Marker der Störungsschwere assoziiert.
Zusammenfassend legen die Ergebnisse der vorliegenden Dissertation nahe, dass AN-Patientinnen Nahrungsreize in einer ersten Phase der Reizenkodierung adäquat verarbeiten, dann aber dysfunktionale störungsspezifische Prozesse einsetzen, die in der überdauernden Vermeidung der Nahrungsreize resultieren. Dies spricht gegen eine primär gestörte Belohnungsverarbeitung bezüglich Nahrungsinformation bei der AN.
Implikationen dieser Erkenntnisse für das Verständnis der Störungsentstehung und -aufrechterhaltung, für die Behandlung der AN als auch für die Weiterentwicklung von Forschungsmethodik und Fragestellungen in der experimentellen Forschung zur AN werden diskutiert.
Abstract:
Anorexia nervosa is recognized as a serious mental disorder which is characterized by self-induced severe underweight due to restricted food intake. Etiological models of anorexia nervosa (AN) suggest that cognitive factors play a critical role in the disorder’s psychopathology. Attentional aspects of food information processing in AN remain largely unknown. Both an early attentional bias (vigilance) and inattentiveness (avoidance) to food pictures have been reported in patients with eating disorders.
The study’s aim was to examine the vigilance-avoidance-hypothesis, which is well-established in anxiety research, concerning food information processing by unraveling the time course of attention deployment in individuals with AN.
We used eye tracking to examine continuous attention deployment in 19 individuals with AN during free visual exploration of food pictures versus non-food pictures compared to 18 fasted and 20 non-fasted healthy controls.
Compared to healthy controls, AN patients showed attentional disengagement to food pictures, but no early attentional bias towards food pictures. Attentional engagement for food pictures was most pronounced in fasted healthy controls. The extent of attentional disengagement in AN patients was negatively associated with BMI as a marker of disorder severity.
The gaze data suggest that individuals with AN show no early vigilance, but later avoidance when confronted with food information. This evidence speaks against a primary disordered reward processing since AN patients initially deploy attention to food pictures in the same way healthy controls do. The time course of attention deployment rather suggests that it is only after a first phase of stimulus encoding and labeling as food that individuals with AN avoid food pictures. This pattern of attention deployment is probably mediated by disorder-specific dysfunctional cognitions.