Inhaltszusammenfassung:
Immer wenn jemand vor der Aufgabe steht, das Vorhandensein und die Intensität von Schmerzen eines Patienten zu beurteilen, muss er aus einer potentiell sehr großen Menge von Hinweisen ('cues') diejenigen auswählen, die für seine Aufgabe relevant sind. In der Literatur wird eine Tendenz beschrieben, dass Menschen, die beruflich Schmerzen beurteilen müssen (Ärzte, Krankenpfleger, Physio- und Ergotherapeuten), die Schmerzintensitäten der Patienten unterschätzen, während Angehörige von Patienten dazu neigen, die Intensität von Schmerzen des Patienten zu überschätzen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es
- experimentelle Studien zusammenzustellen, in denen Übereinstimmung zwischen Beurteilern und Patienten untersucht wird, und ihre Ergebnisse zusammenfassend zu bewerten (Einleitung)
- zu untersuchen, wie Ärzte, Krankenpfleger und -schwestern sowie Physiotherapeuten verschiedene Hinweise bzgl. ihrer Wichtigkeit und ihrer Manipulierbarkeit für den Beurteilungsprozess sowie bzgl. des Auslösens von Misstrauen während des Beurteilungsprozess bewerten (1. Studie)
- zu untersuchen, ob mindestens eine von zwei vorgestellten Erklärungsmöglichkeiten (wobei eine Möglichkeit sich aus einem Modell der Urteilsforschung, die andere sich aus einer evolutionspsychologischen Theorie ableitet) die Neigung von Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Schmerzen zu unterschätzen, vorhersagen kann (2. Studie) und
- zu untersuchen, wie sich vier Hinweise und wie sie sich auf die Schmerzbeurteilung bei Angehörigen von chronischen Schmerzpatienten auswirken (3. Studie).
Die Qualität der Studien, in denen Selbst- und Fremdeinschätzungen von Schmerzen verglichen wurden, wurden an Hand von Kriterien bewertet, die vor dem Suchprozess festgelegt wurden. Nur 18 % der Studien entsprachen diesen Kriterien. In den Ergebnissen dieser Studien gab es Unterschiede im Ausmaß der Unter- und Überschätzung von Schmerzen in Abhängigkeit von der Beziehung des Beurteilers zum Patienten und in Abhängigkeit von der Diagnose der beurteilten Patienten. Aus vielen der Studien ging weiterhin nicht eindeutig hervor, ob und welche Hinweise den Beurteilern zur Verfügung standen.
Die Ergebnisse der ersten Studie zeigen, dass Schmerzverhaltensweisen (verbales und non-verbales Verhalten) als wichtigere aber auch mehr Misstrauen auslösende Hinweise wahrgenommen wurden. Faktoren aus dem Kontext, in dem die Beurteilung stattfindet (z.B. ein möglicher sekundärer Krankheitsgewinn), wurden als weniger wichtig wahrgenommen. Weiterhin bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Wichtigkeit von Hinweisen und ihrer Manipulierbarkeit.
Ergebnisse der zweiten Studie zeigen, dass die zwei vorgestellten Erklärungsmöglichkeiten, das Nichtvorhandensein eines wichtigen Hinweises (keine verbale Äußerung des Patienten zu seinen Schmerzen) und das Vorhandensein eines Hinweises auf sekundären Krankheitsgewinn (Schmerzmittelabhängigkeit), zu einer stärkeren Neigung führten, Schmerzintensitäten zu unterschätzen, als dies bei der Gruppe der Fall war, bei der der wichtige Hinweis vorhanden und der Hinweis bzgl. des sekundären Krankheitsgewinn nicht vorhanden war. Zusätzlich beeinflussten Annahmen der Beurteiler darüber, wie viele Patienten ihre Schmerzen übertrieben darstellen, das Ausmaß an Unterschätzung.
Die dritte Studie ergab, dass Angehörige in ihrer Schmerzbeurteilung von der Schmerzbeurteilung des Patienten beeinflusst werden. Zwei Variablen, die das Verhalten des Patienten betreffen (ob er Tätigkeiten, die er gerne tut, weiter ausübt und ob er Tätigkeiten, die er nicht gerne tut, weiter ausübt), beeinflussten nicht nur die Schmerzintensitätsbeurteilung, sondern auch das Urteil darüber, wie fair das Verhalten des Patienten ist. Die Ergebnisse von medizinischen Untersuchungen dagegen hatten keine Auswirkungen auf die Beurteilung der Schmerzintensitäten.
Zusammengefasst unterstützen die Ergebnisse der Studien im Großen und Ganzen die aufgestellten Hypothesen. Sie legen allerdings auch nahe, dass die methodische Qualität der Studien verbessert werden muss, dass ein Standard bzgl. der Auswertung der betreffenden Studien etabliert werden sollte und das der Begriff ‚Unterschätzung’ differenzierter gebraucht werden sollte. Obwohl noch weitere Untersuchungen notwendig sind, sind die zwei hier untersuchten Erklärungsmodelle viel versprechend. Beide sind hilfreich, den Forschungsschwerpunkt vom Bewerten der Schmerzbeurteilung auf ihre Erklärung zu verlagern. Und nur die erfolgreiche Erklärung von Beurteilungen eröffnet die Möglichkeit, Strategien zu erarbeiten und zu implementieren, die die negativen Auswirkungen des Beurteilungsprozesses auffangen können.
Abstract:
When people have to rate sufferers’ pain intensity, they are confronted with the challenge of extracting from a diversity of cues those relevant to establish the presence and intensity of pain. In the literature a tendency is reported for health care professionals to underestimate pain and for relatives to overestimate pain. The aim of the present piece of work was to
- review studies investigating agreement between patients and judges (introduction)
- investigate how health care professionals perceive cues with regard to importance, manipulation and cautiousness (study 1)
- examine whether two explanations, one derived from a judgement and decision making model, the other one from an evolutionary psychology theory, can account for pain underestimation (study 2) and to
- investigate how selected cues impact on relatives’ pain judgements (study 3).
When reviewing agreement studies, only 18 % of studies were methodologically sound according to the criteria set prior to searching for them. There appeared to be differences between studies depending on judges’ relationship to patients and on patients’ diagnoses. Furthermore, many studies were not explicit about which cues were available to judges, while others forbade judges to talk to patients.
Study 1 found that health care professionals perceive pain behaviours as more important and more cautiousness-inducing than contextual cues for pain judgements. However, importance of cues was closely related to cues’ ease of manipulation.
Study 2 revealed that two accounts of pain underestimation, absence of an important cue (verbal report) and presence of a contextual cue (opioid abuse), led to a greater extent of underestimation than availability of verbal report and facial expression. In addition, expectations of pain exaggeration in patients affected agreement between judges and patients.
Study 3 showed that relatives (like health care professionals) were affected in their pain intensity ratings by verbal report. Although the effect was considerable, relatives, were not affected by a contextual cue (medical evidence) which usually affects pain intensity ratings of professionals. Two additional variables concerning pain patients’ behaviours (continuation of pleasant and unpleasant tasks) affected ratings of fairness of these behaviours and of pain intensity.
Taken together, results of the present piece of work largely support the presented hypotheses. However, they also suggest the need to improve the quality of studies investigating agreement, to establish a standard method for analysing agreement studies and to use the term underestimation of pain more selectively. Although more research is needed to further explore the appropriateness and usefulness of the lens model and social contract theory for pain judgement investigation, the results presented here seem at least promising. Both help to shift the research focus from evaluating pain judgements to explaining them. And only successful explanation of pain underestimation offers the chance to set up strategies capable of encountering its consequences.