Inhaltszusammenfassung:
Schule ist seit dem 19. Jh. zu einem wesentlichen Faktor der Institutionalisierung des Jugendalters als einer eigenständigen Lebensphase geworden; sie ist gleichzeitig zur. wichtigsten Ausdrucksform eines aus den natürlichen Arbeits- und Lebenszusammenhängen herausgenommenen erzieherischen Umgangs zwischen den Generationen geworden. Unter den veränderten Produktionsbedingungen der industriellen Gesellschaft müssen, so Siegfried Bernfeld 1925, "die Kenntnisse, sollen sie nicht mit der sie besitzenden Generation aussterben, in einem besonderen Prozeß, dem Unterricht, übermittelt, durch eine spezifische Arbeitsleistung, das Lernen, erworben werden" (Bernfeld 1925, S. 78).
Daß die Überlieferung der Kultur von der älteren auf die jüngere Generation erkauft wird durch eine Auflösung der Lebenszusammenhänge zwischen den Generationen, ist seitdem ein unlösbares Problem der Erziehung und der Pädagogik geblieben; dies insbesondere deshalb, weil die Zukunft, auf welche die junge Generation vorzubereiten ist, immer offener, unsicherer, ja bedrohlicher geworden ist; neben die Überlieferung des kulturellen Erbes muß die Antizipation von Neuem, neben die Vermittlung überlieferter Lebensformen muß die Suche nach neuen Lebensformen treten.
Die "Kulturpädagogik" mit ihrem Bekenntnis zur Kulturfunktion der Erziehung - "Die Erziehung gewinnt erst durch die Kultur Sinn und Inhalt, die Kultur nur durch die Erziehung Kontinuität und Einheit" (R. Meister 1943) - hat schon in ihrer Zeit, im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, ihre Relativierung und Ergänzung erfahren in der Kulturkritik, in der Jugendbewegung und in der fortschrittlichen Reformpädagogik; sie alle haben darauf bestanden, daß es eine neue Kultur, gerade auch eine pädagogische Kultur, zu schaffen gelte, die zur Bewältigung der Zukunftsprobleme der Gesellschaft geeignet ist. Kultur erscheint hier nicht mehr allein als ein Problem der Überlieferung, sondern auch als eine Aufgabe im Horizont konkreter Utopie. Für die heutige Situation, die durch Auflösung der Lebenszusammenhänge zwischen den Generationen und durch die Bedrohung der Zukunft der Menschheit gekennzeichnet ist, erscheinen mir insbesondere zwei Standpunkte innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Diskussion anregend:
Coleman (1982) kommt nach seiner Diagnose der modernen Gesellschaft als einer sozialen Formation, die durch die Vorherrschaft des "korporativen Subjekts" und durch eine "Asymmetrie" und Trennung zwischen den Generationen gekennzeichnet ist, zur Forderung nach Schaffung einer pädagogischen Kultur, die zurückfindet zu Lebenszusammenhängen zwischen den Generationen, zu Schulen, die sich dem Arbeitsleben und Gemeinwesen öffnen. Benner (1983) gelangt nach dem Durchgang durch die klassischen Positionen der Ethik zu dem Schluß, daß die Klärung des Normproblems der Erziehung nicht mehr durch die Berufung auf Grundwerte oder auf den kategorischen Imperativ allein zu erhoffen sei; es gehe darum, "daß das Generationsverhältnis schrittweise in ein herrschaftsfreies überführt wird und die jeweils erwachsene Generation in der Erziehung der nachwachsenden Generation sich selbst nicht als normativen Maßstab und Telos der Erziehung mißversteht, sondern die Aufgabe und die komplexe Problematik der Verständigung über die richtige Orientierung im Handeln überliefert"; bei der Antwort auf Schleiermachers Frage: "Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?" gehe es um eine erwachsene Generation, die nicht diese Frage zunächst für sich beantwortet, um dann die Antwort zu tradieren, sondern um eine erwachsene Generation, "die diese Frage gemeinsam mit der nachwachsenden Generation erörtert, um sie als Frage an diese und mit dieser zu überliefern" (Benner 1983, S. 55).
Dem Standpunkt von Coleman sind im folgenden Text insbesondere die Ausführungen über grundlegende gesellschaftliche Tatsachen des Jugendalters (Abschnitt 2) sowie über deren Bedeutung für die Lebenssituation von Jugendlichen (Abschnitt 2), dem Standpunkt von Benner sind insbesondere die Ausführungen über Reaktionen im Bildungssystem und die Frage der Werte-Erziehung (Abschnitt 6) verpflichtet. Im übrigen konzentriert sich der Text, entsprechend der Fragestellung der Arbeitsgruppe "Schule und die Entwicklung des Charakters der Jugend", auf subjektive Deutungsmuster der gesellschaftlichen Tatsachen und der Lebenssituation bei Jugendlichen (Abschnitt 4) und auf die Frage nach Handlungsorientierungen bzw. nach einer "postmateriellen" Wertorientierung bei Jugendlichen (Abschnitt 5). Im ganzen handelt es sich hier um eine Zusammenstellung ausgewählter Daten, Stichworte und Thesen, die, insbesondere mit Blick auf Leser in der VR Polen, ein Bild von Ansätzen und Ergebnissen der pädagogischen Jugendforschung in der Bundesrepublik Deutschland vermitteln sollen.