Inhaltszusammenfassung:
Der Vorschlag, mündliche Vermittlung als Merkmal von Folklore anzusehen, ist schon öfter gemacht worden - teilweise im Sinne einer groben Richtungsanzeige, teilweise auch als Versuch einer systematischen Abgrenzung. Natürlich handelt es sich um ein mehr oder weniger mechanisches, gewissermaßen technisch zu identifizierendes Merkmal. Aber das ist keineswegs nur ein Nachteil: das Merkmal läßt sich so leichter und sicherer definieren. Ein Vergleich macht dies offenkundig. Leopold Schmidt bezeichnete es als entscheidendes Merkmal der Volkskultur, daß ihre "Überlieferungen in einem eigentümlichen Zustand der Unbewußtheit empfangen und gelebt werden". Bei dieser Umschreibung hat man vielleicht zunächst das Gefühl, näher am Wesen der Sache zu sein, als wenn lediglich gefragt wird: mündlich - ja oder nein? Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß man sich mit der komplexeren Definition auch erhebliche Schwierigkeiten eingehandelt hat: "Unbewußtheit" ist ja wohl nicht das gleiche wie Bewußtlosigkeit, so daß es nötig wird, den Grad der (Un-) Bewußtheit genauer zu bestimmen; es ist nicht anzunehmen, daß alle an einer kulturellen Aktivität Beteiligten über den gleichen Bewußtseinsgrad verfügen; und auch über die "Eigentümlichkeit" jenes Zustandes müßte man im Grunde Näheres erfahren. Demgegenüber ist die eher technische Kategorie mündlich operationalisierbar, und sie bietet den Vorzug relativ weitgehender Eindeutigkeit.