Inhaltszusammenfassung:
Die vorliegende Arbeit untersucht das Phänomen Eßstörungen bei Ausdauersportlerinnen. Auf dem Hintergrund des identitätstheoretischen Ansatzes von Stahr et al. (1995) geht es um die Frage nach den Hauptverursachungsmomenten der Eßstörungen von sieben jungen Sportlerinnen. Im Rahmen einer qualitativen Sozialforschungsarbeit wurden sieben Athletinnen in einem problemzentrierten Interview zur Phase ihrer Eßstörungserkrankung befragt. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zur systematischen Erfassung des immer häufiger auftretenden Phänomens Essstörungen in Verbindung mit sportlichen Aktivitäten zu leisten. Dabei geht es unter anderem um die Klärung der Frage, ob es sich hierbei um ein eher intrinsisch motiviertes, von der Persönlichkeit und dem Charakter einer Person abhängiges Verhalten handelt, oder ob die Ursache der Eßverhaltensstörungen primär durch äußere Faktoren verursacht wurden (z.B. Ehrgeiz für sportliche Leistungen, Trainer, sportliches Umfeld, Familie u.a.). Dabei spielt die Biographie der einzelnen Probandinnen eine große Rolle.
Magersucht und Eßstörungen allgemein sind in der heutigen Gesellschaft schon länger bekannt. Die vorliegende Arbeit will einen neuen Aspekt, eine andere Perspektive liefern. Es geht um den Zusammenhang von Eßstörungen mit sportlichen Aktivitäten, vor allem in Ausdauersportarten. Hierbei handelt es sich damit um die Betrachtung sogenannter sekundärer Anorexien. Anders als bei ästhetischen Sportarten wie Gerätturnen, Rhythmische Sportgymnastik, Ballett oder Eiskunstlauf, in denen meist noch sehr junge, sich in der Pubertät befindende Mädchen unter Eßstörungen leiden (Primäre Anorexien), liegt der Schwerpunkt der Fragestellung dieser Untersuchung bei Frauen, die zum Teil schon eine Leistungssport-Karriere hinter sich haben und erst danach zu einer Ausdauersportart wechselten. Die entscheidende Frage ist nun, warum reagierten erwachsene Frauen, die schon eine Persönlichkeit entwickelt haben, mit Eßstörungen? Welche Faktoren, Ereignisse und/oder Situationen im Leben dieser jungen Frauen trugen zur Ausbildung ihrer Eßstörungen bei?
Die vorliegende Arbeit verbindet zwei Wissenschaftsbereiche: die Psychologie und die Sportwissenschaft, die beide ein Interesse an der Aufklärung und damit eventueller Hilfestellung für betroffene Athleten und Athletinnen haben. Lassen sich Zusammenhänge zwischen den Merkmalen sporttreibender Personen und dem äußerst komplexen Krankheitsbild einer Eßstörung herstellen? Wenn ja, um welche handelt es sich dabei?
Bei Eßstörungen handelt es sich um ein multikausal verursachtes Krankheitsbild. Es gibt vielfältige Erscheinungsformen von essgestörtem Verhalten und speziellen krankhaften Folgeverhaltensweisen (z.B. exzessives sportliches Training). Die Erkenntnis eines multikomplexen Krankheitsbildes wird durch die Ergebnisse des empirischen Teils der Arbeit untermauert. Bei den hier untersuchten, mit Hilfe eines problemzentrierten Interviews befragten Probandinnen wird deutlich, daß es sich um jeweils sehr individuelle Ausprägungen von Anorexie-Erkrankungen handelt.
Provozierende Umstände, die zur Entwicklung von Eßstörungen führten, finden hauptsächlich intrapersonal statt. Es ist zum Einen der erbarmungslose Umgang der Frauen mit sich und ihrem Körper, ihr Ehrgeiz und ihr Wunsch nach Anerkennung, Beachtung, Aufmerksamkeit und Liebe. Erschwerend hinzu kommen die Ambivalenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Gesellschaftliche Ideale und Wertesysteme fließen in die kognitiven und emotionalen Beziehungs- und Verarbeitungsmuster der anorektischen Sportlerinnen ein.. Das Kernproblem scheint in unausgereiften Persönlichkeitsentwicklungen der einzelnen Personen zu liegen. Es handelt sich um einen inneren Konflikt, um die Suche nach der eigenen, selbstgestalteten Identität. Gemäß dem identitätstheoretischen Ansatz spielen gesellschaftliche Normen und Werte, Beziehungsmuster, Rollenerwartungen und ganz besonders die Manifestation von Identität an der körperlichen Konstitution und die damit in Verbindung gebrachten und assoziierten Persönlichkeitsattribute eine Rolle bei der Ausbildung von Essstörungen von Sportlerinnen. Auch auf physiologischer Ebene läßt sich mittlerweile ein Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und gestörtem Essverhalten nachweisen ( z.B. Serotonin). Fraglich ist nur, was Ursache und was Wirkung ist.
Der identitätstheoretische Ansatz von Stahr et a. (1995) versucht durch Integration verschiedener Erklärungsansätze (psychoanalytische Ansätze, familiendynamische Ansätze, soziokulturelle- und gesellschaftliche Ansätze) näher an das Subjekt zu gelangen. Er versucht darzulegen, daß viele Faktoren und Einflüsse bei der Entstehung abnormer Eßverhaltensweisen miteinander interagieren. Allen bisherigen Erklärungsansätzen gemeinsam ist der Aspekt der Identitätssuche bzw. der Identitätsfindung. Der Schwerpunkt des identitätstheoretischen Ansatzes und damit auch dieser Untersuchung, liegt in der Person selbst.
In der Untersuchung, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, interessiert vor allem das spezielle Problem Frauen im Sport bzw. Frauen im Leistungssport mit Eßstörungen, wobei das Hauptaugenmerk auf Ausdauersportarten liegt. Die Frauen durchlebten eine oder mehrer anorektische Perioden. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Beobachtung, Beschreibung und Interpretation von sieben Einzelfällen essgestörter Sportlerinnen, die auf dem Hintergrund des identitätstheoretischen Ansatzes von Stahr, Barb-Priebe & Schulz (1995) betrachtet und interpretiert werden. Hinzu kommt die Auswertung der Frankfurter Selbstkonzeptfragebogen. Zum Schluß ergibt sich ein Gesamtbild von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der behandelten Einzelfallanalysen. Entscheidend ist auch die Bedeutung der individuellen Lebensläufe der Probandinnen. Es handelt sich hierbei um entscheidende Subjekt-Umwelt-Interaktionen und deren Einfluß auf die Handlungsweisen und Entscheidungen dieser Sportlerinnen. Der identitätstheoretische Ansatz bietet in seiner Berücksichtigung sowohl soziokultureller als auch persönlicher Identitätsmerkmale, angesichts der Komplexität des Themas Frauen mit Eßverhaltensstörungen bis hin zur Magersucht, eine angemessene Diskussionsgrundlage. Im Zentrum der Fragestellung der vorliegenden Arbeit geht es sowohl um persönlichkeitsspezifische Attribuierungen als Gründe für eine Essstörungserkrankung als auch um die Einbindung dieser Persönlichkeit in ihre soziale Umwelt. Es geht auch um vorherrschende soziologische Integrationsstrukturen, um Antworten auf mögliche Ursachen oder mögliche Verursachungsprozesse von Eßstörungen eines intensiv sporttreibenden Menschen.
Die sieben zentralen Hypothesen und Erklärungsansätze
Streben nach Perfektion und Leistung. Der hohe Stellenwert des Leistungsgedankens ist allen hier untersuchten sieben Pbn gemeinsam. Sie haben einen hohen Anspruch an die eigene Leistungsfähigkeit, einen Hang zum Perfektionismus bezogen auf ihre Handlungen, ihre Lebensführung und ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Insbesondere kommt den sportlichen Leistungen, dem Streben nach sportlichen Erfolgen, eine sehr große Bedeutung zu.
Ambivalenz zwischen Anpassung und Emanzipation. Bei einigen Pbn erkannt man ist ein Kampf zwischen der Ausrichtung an traditionellen Wertmaßstäben und Emanzipationsbestrebungen als ein zentrales Element für die Entwicklung ihrer Eßverhaltensstörung.
Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Alle hier untersuchten anorektischen Sportlerinnen sind sehr harmoniebedürftig. Interaktionistische Auseinandersetzungen können nur schwer ausgelebt werden, da die Pbn Angst haben, alleine gelassen oder nicht mehr geliebt zu werden. Ein Grund hierfür könnte ein Vertrauensdefizit gegenüber ihren Mitmenschen sein.
Ambivalenz zwischen Aktivität und Passivität. Magersüchtige Sportlerinnen haben mit der Regeneration ein großes Problem. sie können nicht ausruhen, haben Angst vor Gewichtszunahme, wenn sie weniger trainieren. Die Folge sind Überlastungs- und Ermüdungserscheinungen, sowohl auf körperlicher als auch auf mentaler Ebene. Diese ambivalenten Gedanken manifestieren sich auch als Angst, mit dem Leistungssport einmal aufzuhören. Denn dann würde ein ganz entscheidender Faktor, worauf ihre Identität aufgebaut ist, wegfallen. Folglich fällt es schwer auszuruhen, mal passiv zu sein, Lustlosigkeit und Müdigkeit zuzugeben. Ein dünner, zarter, nach außen hin zerbrechlicher Körper liefert ein offensichtliches Argument einer nonverbalen Leistungsverweigerung.
Identitätsproblematik. Bei allen Pbn geht es im Kernpunkt um die Suche nach der eigenen Persönlichkeit mit den eigenen Wertmaßstäben und einem individuellen Lebensentwurf.
Realitätsflucht. Das Weglaufen vor Problemen und damit eine inadäquate Lebensbewältigungsstrategie kann als weiterer Punkt zur Entstehung einer Eßstörungserkrankung genannt werden.
Geschlechtsrolle. Bei keiner der sieben Pbn war ihre Geschlechtsrolle die Ursache für die Anorexie.
Krankheitsverlauf. Bei allen Pbn folgte nach der Magersuchtphase eine Eßphase. Diese manifestierte sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Zum Teil kam es zu bulimischen Anfällen, teilweise kam es zu Heißhungerattacken oder zu anderen eßgestörten Verhaltensweisen. Allen gemeinsam ist der Verlust des Sättigungsgefühls.
Positive Erfahrungswerte. Die Erfahrung, bis an ihre eigenen Grenzen gehen zu können, sowohl in der körperlichen, physischen Belastbarkeit als auch in bezug auf ihre mentale, psychische Stärke, wurde von allen Pbn positiv bewertet.
Alle hier aufgezeigten Erklärungen und Hypothesen zu Eßstörungserkrankungen bei sporttreibenden Frauen lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Allen gemeinsam ist die Suche nach sich selbst, nach einer eigenen Identität. Die Frauen wollen sich akzeptieren können, so wie sie sind; wozu auch ihre Schwächen gehören. Im Rahmen dieser Arbeit war von besonderem Interesse, daß bevorzugt Ausdauersportarten betrieben wurden. Sie erfordern ein umfangreiches Training mit stereotypen Bewegungsmustern, in denen sich die Sportlerinnen ganz auf sich konzentrieren konnten. So entwickelten sie eine ausgeprägte Introvertiertheit und verloren ein gewisses Maß an sozialer Kompetenz und Realitätssinn.
Abstract:
This study analyses the phenomenon of eating disorders with female serious athletes. Against the background of the identity-theoretical approach by Stahr et al. (1995) it deals with the question about the main causing moments of the eating disorders of seven young female athletes. Within the scope of a qualitative social research seven athletes were questioned in a problem-oriented interview about the periods of their eating disorder diseases. This paper has the aim to contribute to the systematic registration of the more and more occurring phenomenon of eating disorders in combination with sports activities. Among other things, it deals with the clarification of the question if this is a rather intrinsically motivated behaviour, dependent on personality and character, or if the reason of the eating disorder has primarily been caused by external factors ( e. g. ambition on athletic achievements, coaches, sports environment, family and others). Herein the biographies of the single test persons play an important role.
Anorexia and eating disorders in general have been known for quite a while in modern society. This study wants to provide a new aspect, a new point of view. It deals with the relation of eating disorders and sports activities, especially in endurance sports. Herein so-called secondary anorexia are concerned. Unlike aesthetic kinds of sport, like apparatus gymnastics, rhythmic sports gymnastics, ballet or figure skating, where mostly very young girls, who are going through puberty, suffer from eating disorders, this study focuses on women who have already got over with a career in athletics and who afterwards switched to endurance sports. Now the decisive question is: Why did grown-up women, who had already developed their personality, react with eating disorders? Which factors, events and/or situations in the lives of theses young women have contributed to the development of eating disorders?
This paper connects two fields of science: Psychology and sports sciences, which are both interested in solving the problem and giving possible aid to affected athletes. Are there any relations between the symptoms of people doing sports and the extremely complex syndromes of eating disorders? If so, which are they?
Eating disorders show syndromes of multiple causes. There are various forms of symptoms of eating disorders and special pathological subsequent behaviour (e.g. excessive workout). The findings of a multi-complex syndrome are substantiated by the results of the empiric part of the study. With the examined test persons it becomes clear, that they show very individual forms of anorexia diseases.
Provoking conditions, which have led to the development of eating disorders, mainly take place intra-personal. On the one hand, there is the merciless way they deal with themselves and their bodies, their ambitions and their desire for recognition, concern, attention and love. The ambivalences between demand and reality make things even harder. Social ideals and systems of values flow into the cognitive and emotional relationship and processing patterns of the anorectic athletes. The core problem seems to lie within immature personal development of the single people . It is a matter of an inner conflict, the search for their own, self-determined identity. According to the identity-theoretical approach social norms and values, relationship patterns, role expectations and particularly the manifestation of identity on personal physical constitution and the associated attributes of personality play an important role in the development of eating disorders with athletes. Even on the physiological level a relation between physical exercise and eating disorders can be shown (e.g. Serotonin). The question is, what is the cause and what is the effect?
Stahr’s identity-theoretical approach tries to get closer to the subject by integrating various approaches of explanation (psychoanalytic, family dynamic, socio-cultural and social approaches).
He tries to show that a lot of factors and influences interact with the development of abnormal eating habits. Up to now all approaches of explanation have had one aspect in common, the search for and the finding of identity. The identity-theoretical approach and this study focus on the persons themselves.
In the research, which this study is based on, the special problem of women in sports, namely women with eating disorders in athletics is of particular interest, with focus on endurance sports. The women passed through one or several anorectic periods. Subject of this study is the observation, description and interpretation of seven single cases of female athletes with eating disorders, which are considered and interpreted against the background of the identity-theoretical approach by Stahr, Barb-Priebe & Schulz (1995). In addition, there is the evaluation of the Frankfurt self-concept questionnaire. Finally, it shows an overall picture of common interests and differences of the single case studies dealt with. The importance of the test persons’ individual life lines is decisive. These are significant subject - environment interactions which influence the way these athletes act and decide. Considering the complexity of the subject women with eating disorders up to anorexia, the identity-theoretical approach provides a serious basis for discussion by considering socio-cultural as well as personal features of identity. In the focus of the question, this paper deals with specific personal attributes as causes for eating disorder diseases, as well as the integration of these personalities in their social environment. It also deals with given sociological structures of integration to find the answers on possible causes or causing processes for eating disorders of a highly active sportswoman.
The seven central hypothesises and possible explanations
Striving for perfection and achievements. All seven test persons have a highly competitive thinking in common. They show a high demand concerning their own fitness, a tendency towards perfectionism concerning their actions, their way of life and their relationships to other people. Especially athletic performance, the striving for success in sports, is given a great importance.
Ambivalence between fitting in and emancipation. With some of the test persons you can see the battle between orientation along traditional values and the striving for emancipation as a central element for the development of their eating disorders..
Difficulties in interpersonal relationships. All examined anorectic athletes need to live in harmony. It is difficult for them to bear interactive disputes, since they are afraid of being left or not being loved any longer. One reason for this might be a deficit of confidence towards other people.
Ambivalence between activity and passivity. Anorectic athletes have a big problem with regeneration. They cannot relax, are afraid of gaining weight if they exercise less. The consequences are signs of strain and fatigue, on physical as well as on mental level. These ambivalent thoughts manifest themselves as the fear of stopping serious athletics some day. In this case, a very decisive factor which supports their identity would cease. As a consequence they have difficulties to relax, to be passive, to admit listlessness and tiredness. A thin and visibly fragile body provides an obvious argument for a nonverbal refusal of performance.
Problem of identity. All test persons focus on the search for their own personality with their own values and their individual drafts of life.
Escaping reality. Running away from problems, which shows an inadequate strategy of life, can be named as a further point for developing eating disorders.
Gender role. The gender role was not the reason for anorexia for any of the test persons.
Course of the illness. All the test persons experienced a phase of eating after the phase of anorexia. This manifested itself in various forms. In parts there were bulimic attacks, partly there were sudden cravings or other eating disorders. But they all had lost their feeling for satiety.
Positive experiences. The experience to be able to go to their own limits, in physical strain as well as concerning their mental, psychological power, was valued positively by all test persons.
All displayed explanations and hypothesises concerning eating disorders with athletic women can be brought down to a common denominator: They all are searching for themselves, for their own identity. The women want to be able to accept themselves the way they are; which includes their weaknesses. Within the scope of this study it was of special interest that preferably endurance sports were practised. They demand extensive training with stereotype motions, which gave the athletes the opportunity to concentrate totally on themselves. Thus, they developed a distinct introversion and lost a certain degree of social competence and sense of reality.