Inhaltszusammenfassung:
Die Diskussion um den Umgang mit der Rinderseuche BSE und ihren Implikationen für die menschliche Gesundheit ist ein exemplarischer Fall eines Sachverhalts, der ebenso undurchsichtig wie doppelköpfig ist. Es handelt sich um eine Risikosituation von beträchtlicher Tragweite, in der die Gefahr selbst, aber auch alles, was man gegen sie unternimmt, schwerwiegende Auswirkungen haben kann.
Grundlage der Arbeit ist ein Korpus von 95 Interviews zum Thema Rinderwahnsinn aus führenden deutschen Tages- und Wochenzeitungen der Jahrgänge 1995-2004. Mit Fragen zum Thema BSE konfrontiert werden darin Personen, die in ihrer Eigenschaft als Wissenschaftler, Politiker, aber auch als Landwirte oder Gastronomen ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Problem repräsentieren. Die Studie verfolgt zwei explorative Zielsetzungen: Die Charakterisierung des Risikodiskurses und die Analyse des rhetorischen Agierens der Diskursteilnehmer innerhalb dieses Rahmens.
Der analytische Zugang zu den Stellungnahmen der Interviewpartner erfolgt durch eine systematische Suche nach Inhalten, die innerhalb der Diskussion Gemeingut sind und somit die elementaren Bausteine des Nachdenkens über BSE bilden. Die antike Rhetorik bietet mit der Topik ein Konzept für intersubjektiv verbreitete Inhalte. Eine inhaltsanalytische Methodik, die qualitative und quantitative Elemente kombiniert, dient zur Identifizierung dieses Diskursfundaments und legt die Grundlage für eine Untersuchung der argumentativen Vereinnahmung dieses Reservoirs an gemeinsamen Überzeugungen als ‚gute Gründe’ für individuelle Stellungnahmen.
Ein ebenso grundlegender wie konsensueller Bezugspunkt der Stellungnahmen ist das Wenige, was über die Eigenarten der Krankheit bekannt ist. Gerade der Diskurs um den Rinderwahnsinn ist jedoch nicht nur eine Geschichte der argumentativen Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Viel bemerkenswerter ist in Anbetracht der unzureichenden Erforschung von BSE die Rolle, die Äußerungen des Nicht-Wissens und der Ungewissheit in dieser Diskussion einnehmen. Dieser Zweifel – ob er sich nun auf die Natur des Erregers bezieht oder auf andere Annahmen im Zusammenhang mit der Krankheit – ist eine grundlegende Determinante des Diskurses, die jegliche Versuche, Lösungen durch mechanische Subsumtion aus den Wissensprämissen abzuleiten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Umgang mit dieser Ungewissheit werden zwei grundsätzliche Alternativen sichtbar: Die Antizipation des besten („in dubio contra dubium“) oder des schlimmsten („in dubio pro dubio“) anzunehmenden Ausgangs. Die Binnendiskussion um die Sensitivität von BSE-Tests verweist darauf, dass eine dritte diskutierte Option, nämlich die Ungewissheit durch Forschung und Kontrolle gänzlich zu eliminieren, illusorisch ist. Auch wird deutlich, dass es neben der deliberativen Dimension des Diskurses, in der es um die Frage geht, was angesichts der Bedrohung durch BSE zu tun sei, eine forensische gibt, in der Zuweisungen von Schuld und Verantwortung dominieren. Dennoch kann die Diskussion um den Rinderwahnsinn als Beispiel dafür dienen, wie Entscheidungsfindung mit den rhetorischen Mitteln des Aushandelns verschiedener Vorschläge auf der Basis eines Reservoirs gemeinsamer Überzeugungen auch unter der Prämisse unvollkommenen Wissens möglich ist.
Abstract:
Bovine spongiform encephalopathy (BSE) is a neurodegenerative disease in cattle whose transmissibility to humans led to public anxiety in the UK, but also in continental Europe in the 1990ies and the beginning of the following decade, engendering dramatic economic as well as political consequences. Public concern was heightened by the fact that the disease itself was only poorly understood scientifically, which made it difficult to decide which measures to take against the threat.
The study investigates 95 press interviews given by politicians, scientists and stakeholders economically affected by the BSE crisis. The texts date from the years 1995 to 2004 and reveal multiple ways of addressing the problem from various angles. The interviewees employ a number of rhetorical strategies to make their point, the most prominent being that of either downplaying or amplifying uncertainty. At the same time, nearly all statements refer to a common knowledge base which is highly consensual. The study uses the rhetorical term of topos to address these generally accepted pieces of knowledge which are in turn adopted in various ways as ‘good reasons’ for individual claims. The texts reveal two basic ways of dealing with uncertainty: To anticipate a best case (“in dubio contra dubium”) or worst case (“in dubio pro dubio”) scenario. To investigate and control the problem in order to reach complete certainty (such as “safe beef”) is discussed as a third option, but the debate on the sensitivity of BSE testing points out to the practical limitations of this approach.
It also has to be acknowledged that due to the political dimension of the debate, talking about the BSE risk does not only mean advising the public about food safety or promoting certain problem solving approaches. It is also a debate in which responsibility and blame are central issues. Thus, from a rhetorical point of view, the statements given in the interviews do not only belong to the domain of the deliberative genre, but do also have a forensic dimension. Still, one of the most intriguing aspects of the debate on BSE is how rhetorical reasoning obviously does enable all stakeholders to promote concrete decisions in a situation of limited time and factual uncertainty.