Inhaltszusammenfassung:
Giovanni Boccaccio stellt die sehr eindrucksvolle Griselda-Novelle an das Ende seines Decameron (um 1350). Die Vorstufe dieser Erzählung sind sehr wahrscheinlich die "Griseldismärchen", die man sich seit alters u.a. in Dänemark, Island, Russland erzählte. In diesen Märchen haben sich, wie man nachgewiesen hat, Grundzüge des altgermanischen Eherechts erhalten, denen wir deshalb auch noch in Boccaccios Griselda-Novelle fast rein wiederbegegnen. Da wohl weder Boccaccio noch seinen Lesern bewusst war, dass diese Rechtsnormen, die für die Menschen dieser Erzählung Gültigkeit hatten, einer längst vergangenen Zeit angehörten, verstanden sie im späten Mittelalter das "unmenschliche“ Verhalten des Markgrafen und die Reaktion der "Dulderin“ Griselda nicht mehr. Deshalb suchten sie nach für sie nachvollziehbaren Motiven und Erklärungen, und zwar bis in die Gegenwart.
Der erste, der eine Deutung lieferte - Boccaccio gibt nur einen nüchternen Tatsachenbericht und enthält sich weitgehend eines Urteils - war Francesco Petrarca, der mehr als zwanzig Jahre später (1373) Boccaccios Novelle in die Weltsprache Latein frei übertrug. Dadurch wurde sie sehr bald in ganz Europa bekannt, immer wieder bearbeitet (auch von Petrus de Hailles) und in die Volkssprachen übersetzt.
Die Absicht, die Petrarca mit seiner Bearbeitung verband und die er zuletzt auch ausspricht, war, den Menschen ein Vorbild an die Hand zu geben, das ihnen helfen sollte, das Leben zu bewältigen.
Eine weitere lateinische Bearbeitung, in Frankreich noch im 14. Jh. entstanden, stammt sehr wahrscheinlich von dem Magister Petrus de Hailles, Sekretär Guys II., des letzten Grafen von Blois. Die Vorlage des Petrus de Hailles ist Petrarcas Übersetzung, doch wird aus dessen Epistel ein kleines Epos in gereimten Hexametern.
Ziel dieses Kommentars ist, die sprachlich-grammatischen, stilistischen sowie metrischen Voraussetzungen für eine Interpretation zu liefern, d.h. den lateinischen Text in seiner vorliegenden Gestalt, soweit er der Erklärung bedarf, zu erläutern und dadurch verständlicher zu machen.
Die Kommentierung erfolgte unter drei sich ergänzenden Gesichtspunkten:
1. wurde der Text an und für sich erklärt, d.h. unabhängig von seiner Vorlage. Berücksichtigt wurden dabei die Schreibung eines Wortes, seine Lautgestalt (u.a. im Hinblick auf den Reim) und seine Form. Außerdem wurden der Satzbau, die Wortbildung (insofern sie die Bedeutung eines Wortes betrifft) einschließlich der Bildung neuer Wörter im Mittelalter untersucht, sowie die Rückentlehnung aus dem Französischen, das doch wohl die Muttersprache des Autors war.
Wesentlich war vor allem, die Bedeutung eines Wortes in seinem Kontext zu ermitteln und, soweit sie nicht allgemein bekannt ist, durch Zitat zu belegen. Zum besseren Verständnis einer Textstelle wurden gelegentlich längere Übersetzungen in den Kommentar eingefügt, während auf die bloße Wortgleichung weitgehend verzichtet wurde. Dafür folgt auf jede Versgruppe eine Prosaübersetzung, in der ich versucht habe, den Sinn des einzelnen Wortes und die Struktur des Satzes möglichst unverändert wiederzugeben, andererseits sollte die Übersetzung aber auch lesbar, d.h. aus sich verständlich sein, was natürlich immer wieder den Kompromiss notwendig gemacht hat.
Eine weitere Aufgabe der Kommentierung war die Berücksichtigung des Ornatus, also der rhetorisch-stilistischen Figuren, und eine kurze Bestimmung ihrer jeweiligen Funktion im Textzusammenhang, sowie der Hinweis auf die verschiedenen Formen von Ausdrucksverknappung (metrischer Zwang) und auf die Vorliebe des Autors für Pleonasmen in jeglicher Gestalt.
2. Ein zweiter Gesichtspunkt der Kommentierung war, den Text als Bearbeitung einer Vorlage in lateinischer Prosa zu verstehen. Der Hinweis "s. Petrarca“ fordert immer dann zum Vergleich auf, wenn eine Formulierung Petrarcas für das Verständnis einer Petrus-Stelle erforderlich ist. Wesentliche Unterschiede werden kommentiert. Deshalb wurde der entsprechende Abschnitt des Petrarca-Textes jeweils unter der Übersetzung abgedruckt.
3. wurde untersucht, ob Petrus auch Boccaccios Novelle gekannt hat und inwieweit er sich von ihm hat anregen lassen, was natürlich nur dann nachweisbar ist, wenn Übereinstimmung nur zwischen ihm und Boccaccio besteht.
Abstract:
The most impressive Griselda-Novella appears at the end of Giovanni Boccaccio’s Decameron (about 1350). The preliminary version of this tale most probably is the “Griseldis fairy tales”, which were told in Denmark, Iceland, Russia and elsewhere from time immemorial. As has been proved, in these tales we can find the basic traits of the old Germanic matrimonial law, which therefore recur in Boccaccio’s Griselda novella almost unchanged. As neither Boccaccio nor his readers were familiar with the fact that these legal norms, which were respected by the characters of this tale, belonged to a period of time long ago, they did not understand - in the late Middle Ages - the “inhuman” behaviour of the margrave and the reaction of the “silent sufferer” Griselda.For this reason they have searched for motives and explanations that they could understand and this until today.
The first to give an interpretation was Francesco Petrarca, who, more than twenty years later (about 1373), transferred Boccaccio’s novella into the lingua franca Latin. Thus the novella spread across Europe in various versions (including Petrus de Hailles’s) and was translated into different vernaculars. Petrarch’s intention was to provide the people with a suitable model for understanding life.
In France, in the late 14th century, another Latin version most probably by Master Petrus de Hailles, secretary to Guys II., the last Count of Blois, appeared. Petrarch’s translation was Petrus de Hailles’s base text, but the original epistle has been transformed into a little epic with rhyming hexameters.
Aims of the commentary:
This commentary is intended to give a sound basis for the linguistic- grammatical, stylistic as well as the metrical aspects for an interpretation, i.e. to explain the Latin text as we know it and thus to understand it better.
The commentary was done from three different points of view complementing each other:
1. The text as such was explained, i.e. without considering the original. However, the spelling of a word, its phonetic form (inter alia in respect to rhyme) and its form were taken into account. The structure of the sentences, the formation of words (as far as relevant to the meaning of a word) together with the formation of new words in the Middle Ages as well as the reborrowing from the French, which presumably was the author’s native language, were examined.
It was essential to find the meaning of a word in its context and, unless generally known,to support it throug a quotation. In order to gain a better understanding of a certain part of the text occasionally some lengthy translations were inserted into the commentary, but almost no word-by-word ones were given. Instead, every stanza is followed by a translation in prose, in which I tried to render the meaning of a single word and the sentence structure rather unchanged. On the other hand, it was indispensable to present a translation that was comprehensible without any additional explanations.This dilemma necessitated compromise in many cases.
Another aim of the commentary was the consideration of the ornatus, i.e. the rhetorical-stylistic figures, and a short determination of its function within the textual context as well as references to the different ways of reduced expressions (because of observance of the metrical rules) and the author’s predilection of pleonasm of all kinds.
2. Another purpose of the commentary was to understand the text as a version of the original in Latin prose. The reference “s. Petrarca” is meant to invite comparison if necessary for the understanding of the respective wording in the Petrus version. Most differences between the original and its version have been commented upon.Therefore the corresponding paragraph of the Petrarch text appears directly after the translation.
3. At last I tried to find out if Petrus knew Boccaccio’s novella and to what degree he might have been inspired by him, which, however, can only be proved if his text and Boccaccio’s are the only ones to correspond.