Inhaltszusammenfassung:
Mehrfachmalignome, allgemein definiert als multiple, autonom und voneinander unabhängig auftretende Tumoren im Körper eines individuellen Patienten, werden als eine relative Seltenheit angesehen. Durch sich ständig verbessernde diagnostische Methoden und neue Therapieansätze, welche dazu verhelfen, dass zunehmende Zahlen an Patienten die bedrohliche Erkrankung eines Malignoms durch eine kurative Therapie überleben, ist zu erwarten, dass die Inzidenzzahlen und die klinische Relevanz der Mehrfachmalignome an Wichtigkeit zunimmt.
Aus der Datenbank des Tumorzentrums (Comprehensive Cancer Center) Tübingen wurden 348 Patienten identifiziert, bei denen innerhalb des Zeitraumes 1995-2005 Mehrfachmalignome diagnostiziert wurden und mindestens ein Malignom im Gastrointestinaltrakt lokalisiert war. Für die Definition der Mehrfachmalignome wurden die Kriterien von Waren und Gates60 angewandt. Aus der Datenbank und den Akten des Archivs der Universitätsklinik Tübingen wurden Daten zu Patientengeschlecht, -Alter, Malignomanzahl, Malignomlokalisation, Zeitintervalle zwischen den Diagnosestellungen der Mehrfachmalignome, Erkrankungsstadien, Familien-, Berufs- und Raucheranamnesen, sowie Überlebenszeiten der Patienten erhoben. Mit Hilfe des statistischen Programmes JMP wurde die statistische Analyse des Datenmaterials vorgenommen. Das Patientenprofil der gegebenen Gruppe und die klinischen Eigenschaften der Mehrfachmalignome in diesem Patientengut wurden beschrieben.
In der gesamten Patientengruppe von 348 Mehrfachmalignomträgern wurden in 312 (89,7%) Fällen Doppelmalignome, in 28 (8,0%) Fällen Dreifachmalignome, in 7 (2,0%) Fällen Vierfachmalignome und in einem Fall (0,3%) ein Fünffachmalignom gefunden. 232 (66,7%) Patienten waren männlichen Geschlechts, 116 (33,3%) weiblichen Geschlechts. Es fanden sich 190 (54,6%) metachrone, 93 (26,7%) simultane und 65 (18,7%) synchrone Malignome in der gesamten Patientengruppe. Die Altersverteilung der Patientengruppe ergab annähernd eine Normalverteilung mit Höhepunkt bei der Altersgruppe der 60-69-Jährigen. Im arithmetischen Mittel betrug das Patientenalter bei Erstdiagnose 63,4 Jahre. Die häufigsten Malignomlokalisationen der gesamten Patientengruppe waren Rektum (11,5%), Kolon (10,3%) und Pharynx (7,2%). Bei Frauen traten Malignome des Kolons (F=21,2% vs. M=14,2%), Rektums (F=18,3% vs. M=16,2%) und des Magens (F=7,1% vs. M=4,6%) etwas häufiger als bei den Männern auf. Bei Männern traten dagegen Malignome des Pharynx (M=14,6% vs. F=2,5%), Ösophagus (M=13,0% vs. F=3,7%) und der Leber (M=3,6% vs. F=0,8%) häufiger auf. Im Vergleich zu Erstmalignomen nahm bei Zweitmalignomen die Häufigkeit der Ösophagus- (4,0% vs. 11,3%), Magen- (3,5% vs. 8,9%) und Pankreasmalignome (0 vs. 4,5%) tendenziell zu. Die häufigste Lokalisationskombination bei Doppelmalignomen der gesamten Patientengruppe waren Ösophagus-Pharynx (11,5%) und Kolon-Rektum (8,7%). Bei Patienten der Raucher-Untergruppe waren am häufigsten Malignome des Pharynx (20,9%), Ösophagus (16,4%) und Rektums (11,2%) vertreten. Im Vergleich dazu waren bei der Nichtraucher-Untergruppe am häufigsten Kolon (20,8%), Rektum (18,8%) und Mamma (9,4%) betroffen. Bei 93 (37,7%) der Patienten mit synchronen und metachronen Malignomen wurde das Zweitmalignom innerhalb des ersten Jahres nach dem Indextumor diagnostiziert. Bei 31,2% dieser Fälle wurde das Zweitmalignom schon innerhalb der ersten 1,5 Monate nach dem Indextumor diagnostiziert. Das Zeitintervall zwischen Erst- und Zweitmalignomdiagnose betrug im Median 1,7 Jahre (Q1 0,5 Jahre; Q3 3,5 Jahre) bei den Männern und 2,0 Jahre (Q1 0,4 Jahre; Q3 3,6 Jahre) bei den Frauen. Die Mediane Überlebenszeit der Männer betrug 25,7 Monate (Spannweite 115,4 Monate; Q1 11,6 Monate; Q3 50,8 Monate) im Vergleich zu 39,4 Monaten (Spannweite 109,2 Monate; Q1 22,3 Monate; Q3 60,1 Monate) bei den Frauen. In unserer Patientengruppe wurden die meisten Erst- und Zweitmalignome in den Stadien T1 oder T2, N0 oder N1, M0 und G2 diagnostiziert. Es zeigte sich eine Tendenz zugunsten höherer Stadien der Zweit- im Vergleich zu Erstmalignomen.
Das Auftreten von Mehrfachmalignomen stellt ein relevantes klinisches Problem dar. Kenntnisse über das Vorkommen und die klinischen Eigenschaften der Mehrfachmalignome werden zunehmend wichtiger für die richtige Diagnosestellung, sowie die Gewährleistung einer adäquaten Nachsorge krebskranker Patienten und die Prävention. Bei Betreuung von Mehrfachmalignom-Patienten sollten unter anderem deren anamnestisch bekannte Risikofaktoren sowie Geschlecht und möglicherweise die geographische Region in Betracht gezogen werden. Auch bei einer kurz zurückliegenden Diagnose eines Malignoms sollte bei neuen Symptomen nicht automatisch von Problemen des diagnostizierten Malignoms oder dessen möglichen Metastasen ausgegangen werden, sondern auch an die Möglichkeit der Entwicklung eines Zweit- bzw. Drittmalignoms gedacht werden.