Inhaltszusammenfassung:
Orofaziale Spalterkrankungen zählen zu den häufigsten Fehlbildungen mit einer Inzidenz von 1:600. Ihre Entstehung ist multifaktoriell bedingt und die betroffenen Patienten leiden unter optischen und funktionellen Einschränkungen. Das Auftreten von Spalten kann auch mit syndromalen Erkrankungen vergesellschaftet sein. So treten beispielweise bei 90% der Patienten mit Robin-Sequenz auch Gaumenspalten auf. Die vorliegende Studie untersucht die Kaufunktion und die Mundgesundheitsbezogene Lebensqualität von Probanden mit und ohne kraniofazialen Anomalien, die sich in kieferorthopädischer Behandlung am Universitätsklinikum Tübingen befinden. Als Untersuchungsinstrumente dient der standardisierte Kaufunktionstest nach Slavicek, ein Anamnese- und Untersuchungsbogen sowie der OHIP-G14-Fragebogen. Es soll erfasst werden, ob das Vorliegen einer Spalterkrankung einen Einfluss auf die Kaufunktion der Probanden hat und ob die Art der Spalterkrankung eine Rolle spielt. Weiterhin wird die Auswirkung von sekundären Faktoren wie Alter, Geschlecht, Dentitionsstadium sowie von skelettaler Klasse, Angle Klasse und vorliegendem Kreuzbiss analysiert.
Die Untersuchung erfolgte nach erfolgreicher Aufklärung und mit vorliegendem Einverständnis der Probanden und gegebenenfalls ihrer Erziehungsberechtigten. Im ersten Schritt wurde eine Kurzform der Anamnese erhoben. Teile der Daten wurden im Nachhinein mit denen aus der elektronischen Patientenakte des UKT abgeglichen. Als nächstes erfolgte die Erhebung des OHIP-G14-Fragebogens zur MLQ in Form eines strukturierten Interviews. Anschließend wurde eine vollständige Untersuchung des stomatognathen Systems mit Erfassung des Zahnstatus, der Dentitionsphase, der vorliegenden Verzahnung mittels Angle Klassifizierung und der gegebenenfalls bestehenden Kreuzbisse durchgeführt. Die Probanden führten daraufhin den Kaufunktionstest nach Slavicek durch, welcher mit gelantinehaltigen Weingummi in drei verschiedenen Härtegraden (grün = weich, gelb = medium, rot = hart) als Testbodies funktioniert. Es wurden je neun Kauzyklen durchgeführt, dabei kaute der Proband je ein Stück der Modellnahrung zuerst nur rechtsseitig, dann nur linksseitig und schließlich gleichmäßig auf beiden Seiten 30 Sekunden lang. Im Anschluss fing man die Testnahrung in einem Sieb auf und spülte diese mit kaltem Wasser. Danach folgte der Ausstrich auf einer Testplatte und die Dokumentation des Ergebnisses über ein Foto der ChewBox. Die Bilder wurden via Dropbox an die Firma Orehab Minds weitergeleitet und dort digital ausgewertet. Dabei ermittelte man die Anzahl und die mittlere Partikeloberfläche für die einzelnen Probanden und Kauzyklen.
Die Kaufunktion der Probanden mit Spalterkrankung ist signifikant verringert im Vergleich zu den Kontrollprobanden, dies gilt für die mittlere Partikeloberfläche (AC = 146,84 mm2 vs. ACD = 192,91 mm2; p=0,04). Insbesondere bei den linksseitigen Kauzyklen stellt sich die Kaufunktion der betroffenen Probanden deutlich eingeschränkt dar, hierbei wurden auch signifikant weniger Partikel (NKV_li_CD = 20,17 vs. NKV_li_C = 30,69; p = 0,02) und eine vergrößerte mittlere Oberfläche festgestellt. (AKV_li_CD = 215,40 mm2 vs. AKV_li_C = 145,40 mm2; p < 0,004) Die Art der Spalterkrankung spielt ebenfalls eine Rolle für die Kaueffizienz, so schneiden die Teilnehmer mit RS bei allen Kauzyklen am schlechtesten ab, während die Probanden mit Lippen-Kiefer-Spalte sogar bessere Ergebnisse erzielen als die Kontrollprobanden. Die Ergebnisse der Kaueffizienz von Spaltseite zu gesunder Seite unterscheiden sich bei den einseitigen LKGS-Patienten nicht signifikant. Den Faktoren Alter und Dentitionsstadium kann ein Einfluss nachgewiesen werden. Insbesondere bei den Patienten mit Spalterkrankung verbessert sich die Kauleistung mit zunehmendem Alter signifikant (nCD2 = 75,36; nCD1 = 46,80; p = 0,04). Das Geschlecht beeinflusst nur bei der Kontrollgruppe das Ergebnis des Kaufunktionstest, hierbei schneiden die weiblichen Teilnehmer besser ab als die männlichen (n♂C = 67,44; n♀C = 99,66; p = 0,04 und A♂C = 168,61 mm2; A♀C = 127,73 mm2; p = 0,04). Es kann nachgewiesen werden, dass die Härte der Modellnahrung einen signifikanten Einfluss auf die Kaufunktion hat. Probanden mit kraniofazialer Fehlbildung haben bei der harten Probe signifikant schlechtere Ergebnisse als die Kontrollprobanden (NCD_hart = 19,21 vs. NC_hart = 29,40; p = 0,04 und ACD_hart = 209,63 mm2 vs. AC_hart = 157,52 mm2; p = 0,04). Mit zunehmender Schwere der Spalterkrankung können die Probanden die harten und die mittelharten Testbodies schlechter zerkauen. Auch die Faktoren skelettale Klasse, Angle Klasse und Kreuzbisse beeinflussen die Ergebnisse. Den stärksten Einfluss haben vorliegende Kreuzbisse, sie reduzieren die Kauleistung der betroffenen Probanden mit einer Spalterkrankung bei einzelnen Kauvorgängen signifikant. Dabei schneiden die Patienten mit Kreuzbiss in Bezug auf die erreichte durchschnittliche Teilchenanzahl bei den linksseitigen (NCD_CB_links = 16 vs. NCD_NoCB_links = 22,48, p = 0,04) und beidseitigen Kauzyklen (NCD_CB_bilat = 16,33, NCD_NoCB_bilat = 24,78, p = 0,02), sowie bei denen mit der harten Modellnahrung (NCD_CB_hart = 15,8, NCD_NoCB_hart = 24,44, p = 0,02) deutlich schlechter ab, als die ohne Kreuzbiss. Das Vorliegen einer skelettalen Kl. III vermindert die Kaufunktion bei Betrachtung der gesamten Studienpopulation im Vergleich zur Kl. II signifikant (p = 0,0378). Innerhalb der CD-Gruppe erreichen die Kl. III Probanden jedoch die besten Ergebnisse. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe mit skelettaler Kl. II zeigen bei den beidseitigen Kauvorgängen signifikant bessere Werte als die mit Kl. III (AC_skel.Kl.II_KVbds = 114,88 mm2 vs. AC_skel.Kl.II-I_KVbds = 184,94 mm2; p = 0,04). Die Angle Kl. III- Probanden schneiden beim Kaufunktionstest signifikant schlechter ab als die mit Kl. II und Kl. I (AAngle_III_li = 217,34 mm2 vs. AAngle_I_li = 154,08 mm2; p = 0,031 und AAngle_III_li = 217,34 mm2 vs. AAngle_II_li = 146,85 mm2; p = 0,0201). Zwischen Kl. II und Kl. I kann kein signifikanter Unterschied festgestellt werden. Die MLQ von Probanden mit und ohne CD weist keinen relevanten Unterschied auf. Bei der Betrachtung der Untergruppen schneiden die Patienten mit CD bei den Fragen bezüglich der psychischen Lebensqualität schlechter ab als die Kontrollprobanden, bei der funktionellen Lebensqualität verhält es sich umgekehrt. Bei einzelnen Fragen ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen, so zum Beispiel bei Frage 10 ("neigte dazu, gereizt zu sein") (ScoreC_F10 = 3,83 vs. ScoreCD_F10 = 3,75, p = 0,03). (und bei Frage 5 („Ernährung unbefriedigend“) (ScoreC_F5 = 3,86 vs. ScoreCD_F5 = 4,00, p = 0,03).
Die Ergebnisse dieser Arbeit stimmen mit den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Eine Ausnahme bilden dabei die Ergebnisse der Kaueffizienz für die Auswertung der skelettalen Klassen der Kontrollprobanden. Hier sollten weitere Studien stattfinden um zu überprüfen, ob die Kaufunktion von kieferorthopädisch behandelten Probanden mit skelettaler Kl. II der von Probanden mit Kl. I tatsächlich gleichwertig ist. Die Unterlegenheit der Kaufunktion der Probanden mit skel. Kl. III ist hingegen in der Literatur gut zu finden. Daten über die Kaufunktion von Probanden mit Robin-Sequenz wurden bisher nicht erhoben, daher leistet diese Studie einen wertvollen Beitrag und liefert neue Erkenntnisse. Weitere Studien mit einer größeren Probandenzahl mit RS und CD sollten in Zukunft durchgeführt werden, um die gewonnenen Erkenntnisse zu validieren. Weiterhin sollte die körperliche Entwicklung von Kindern mit und ohne CD in kieferorthopädischer Behandlung in Bezug zu ihrer Kaufunktion gesetzt werden, um zu überprüfen ob eine verringerte Kauleistung mit Unter- oder Übergewicht korreliert. Dafür könnte der BMI oder die KiGGS-Referenzperzentile für Körpermaße zum Einsatz kommen. Außerdem sollte zukünftig die Homogenität der Ergebnisse des Kaufunktionstests mit untersucht werden, um genauere Ergebnisse zu erhalten und bessere Aussagen über die Kaufunktion treffen zu können.
Die Einführung von Trainingsprogrammen zur Verbesserun der Kaueffizienz, beispielsweise durch täglich 5 Minuten beidseitiges Kaugummikauen, könnte die Kaueffizienz von CD-Patienten verbessern. Daher sollte in Betracht gezogen werden, dieses in das interdisziplinäre Behandlungskonzept für CD-Patienten mit aufzunehmen.