Inhaltszusammenfassung:
Unser Gedächtnis muss in der Lage sein, Erinnerungen zu bewahren und zur gleichen Zeit genügend Platz für die Verarbeitung von neuen Informationen zu bieten. Eine Möglichkeit, dieses Gleichgewicht zu erreichen, besteht darin, Erlebnisse abstrakt zu repräsentieren, d.h. die Quintessenz eines Erlebnisses herauszufiltern. Konsolidierungsprozesse unterstützen diesen Vorgang, bei dem es unter Umständen auch zu Erinnerungsverfälschungen kommt, sodass wir uns an Dinge „erinnern“, die so nie stattgefunden haben. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich mit der Frage, ob Schlaf einen Einfluss auf diesen Prozess hat.
In dieser Studie untersuchten wir mittels eines nonverbalen Figurenparadigmas, wie sich die Gedächtnisabstraktion über mehrere Konsolidierungsnächte hinweg entwickelt. Unser Ziel war es, den Einfluss des Schlafes im Vergleich zum Wachzustand auf diesen Prozess zu untersuchen. Zu diesem Zweck testeten wir im Rahmen eines Innersubjekt Designs 16 Proband:innen 20 Minuten, eine Woche sowie ein Jahr nach Enkodierung abstrakter Figurensets in Bezug auf ihre Wiedererkennungsraten. Die Figurensets wurden entsprechend der jeweiligen Bedingung (Wach-/Schlaf-) am Morgen oder am Abend enkodiert. Zusätzlicher Gegenstand der Fragestellung war eine Manipulation der Figurensets in Bezug auf deren Ähnlichkeit zum Prototyp, welcher repräsentativ für die Gedächtnisabstraktion steht.
Unsere Ergebnisse zeigen zu allen Messzeitpunkten hohe Wiedererkennungsraten der Prototypen. Ein Jahr nach Enkodierung wurden Prototypen von den Proband:innen sogar häufiger „wiedererkannt“ als alte, d.h. tatsächlich enkodierte Formen. Zudem konnte gezeigt werden, dass Prototypen im Vergleich zu anderen, nicht enkodierten Formen, häufiger als „alte Formen“ eingestuft wurden sowie signifikant über Zufallsniveau von den Proband:innen als „prototypisch“ für die Figurensets ausgewählt wurden. Unterschiede zwischen der Schlaf- und der Wachbedingung wurden in vorliegender Studie nicht festgestellt. Trotzdem fanden wir Korrelationen zwischen polysomnographischen Aufzeichnungen – insbesondere während des NREM-Schlafes – und den Verhaltensdaten. Die Manipulation der Figurensets in Bezug auf ihre Ähnlichkeit zum Prototyp und die damit reduzierte Figurenanzahl pro Set führte womöglich zu dem fehlenden Schlafeffekt, welcher in vorangegangenen Versuchen (Lutz et al., 2017) bereits gesehen wurde.
Gedächtnisabstraktion scheint sehr früh während oder nach der Enkodierung neuer Gedächtnisinhalte zu beginnen, unabhängig von nachfolgender Wachheit oder Schlaf. Entsprechende Gedächtnisspuren bleiben mindestens für den Zeitraum eines Jahres stabil. Ob es danach noch eine qualitative Änderung derselben geben wird, sollte Gegenstand zukünftiger Forschung sein.