Inhaltszusammenfassung:
Design und Ziele: Im Zuge der COVID-19 Pandemie wurden eine Vielzahl von Scores entwickelt, um Patienten mit einem hohen Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf frühzeitig zu identifizieren. Allerdings ist nicht schlussendlich geklärt, inwiefern diese Modelle unter Berücksichtigung unterschiedlicher Populationen, klinischer Aspekte, Gesundheitssysteme und epidemiologischen Umständen übertrag- und generalisierbar sind. Das Ziel der vorliegenden Arbeit war ein Vergleich der Prädiktionsfähigkeiten von verschiedenen klinisch etablierten und COVID-19 spezifischen Scores für die Endpunkte Aufnahme auf die Intensivstation und Tod im Krankenhaus in einer deutschen Population in verschiedenen Stadien der COVID-19 Pandemie
Methodik: Die vorliegende monozentrische retrospektive Kohortenstudie schloss erwachsene Patienten (≥18 Jahre) mit einer COVID-19 Erkrankung am Universitätsklinikum Tübingen ein. Die prädiktive Validität des qSOFA, CRB-65, NEWS, COVID-GRAM und 4C-Mortality Scores wurde in drei verschiedenen Kohorten miteinander verglichen. Berücksichtigt wurden die erste Infektionswelle (bis zum 30. Juni 2020), die zweite Infektionswelle (1. July 2020 bis 7. März 2021) und die dritte Infektionswelle (8. März 2021 bis 30. Mai 2021). Die statistischen Vorhersagewerte, die ROC-AUC und die PR-AUC wurden unter Verwendung der DeLong`schen Methode und des Bootstrapping-Verfahrens ermittelt und miteinander verglichen.
Ergebnisse: Insgesamt wurden 347 Patienten in die Studie eingeschlossen, 153 (44.1%) waren weiblich, das mittlere Alter lag bei 65.4 Jahren (IQR 57.0-78.0). Von diesen wurden 82 Patienten (23.6%) auf die Intensivstation aufgenommen, 32 Patienten (9.2%) verstarben. Im Verlauf des Studienzeitraums konnte eine signifikante Reduktion der Aufnahmen auf die Intensivstation (p-Wert 0.002) und der Anzahl verstorbener Patienten (p-Wert 0.044) beobachtet werden. Der NEWS und der 4C-Mortality Score zeigten die höchste Prädiktionsfähigkeit für die genannten Endpunkte, sowohl der COVID-GRAM als auch der 4C-Score zeigten sich dem NEWS nicht überlegen. Im Verlauf des Studienzeitraums zeigte sich eine signifikante Verschlechterung der Prädiktionsfähigkeit von NEWS (p-Wert 0.011 für eine Aufnahme auf die Intensivstation) und 4C-Score (p-Wert 0.002 für eine Aufnahme auf die Intensivstation und 0.045 für Tod im Krankenhaus).
Schlussfolgerung: Die mit fortschreitender Pandemie rückläufigen Intensivaufnahmen und die geringere Mortalitätsrate verschlechterten die Prädiktionsfähigkeit der Scores. Besonders in Hinblick auf den dynamischen Charakter der Pandemie ist eine weitere und kontinuierliche Evaluation des Risikobewertung notwendig, auch unter Berücksichtigung neuer Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten. Der NEWS als einfach nutzbares bettseitiges Modell stellte sich als sinnvolles Instrument in der Risikoprädiktion heraus, während komplexere COVID-19 spezifische Scores sich nicht überlegen zeigten.