Inhaltszusammenfassung:
In dieser Dissertation wurden 140 adulte Patienten der Tübinger Spezialambulanz für hereditäre Leukencephalopathien als Teil des Zentrums für Seltene neurologische Erkrankungen mit molekulargenetisch gesicherten und ätiologisch unklaren Leukencephalopathien retrospektiv hinsichtlich der geno- und phänotypischen Verteilung sowie deren klinischen Verlauf untersucht. Die Datenerhebung erfolgte anhand von Arztbriefen und Akten über die Software SAP-ISH in eine kennwortgeschützte Access Datenbank nach vorab festgelegten Kriterien. Unter den 91 molekulargenetisch gesicherten Patienten konnten 23 verschiedene Genotypen identifiziert werden. Die vier häufigsten Genotypen ALD, HDLS, MLD und CADASIL hatten einen kumulativen Anteil von etwas mehr als 60%. 12 Genotypen waren nur durch Einzelfälle in der Kohorte vertreten, was nochmals die Seltenheit der Erkrankungen unterstreicht. Es zeigten sich deutliche Unterschiede der genotypischen Verteilung hinsichtlich Literaturvergleichen mit kindlichen Kohorten. Auch Ethnien-spezifische Unterschiede konnten dargestellt werden. Insgesamt stimmte die Kohorte in Bezug auf epidemiologische Daten weitestgehend mit der Literatur überein. Unsere Kohorte ist eine der größten und heterogensten bisher publizierten Kohorten adulter Leukencephalopathien.
Im Unterschied zur Literatur erkrankten Frauen im Mittel häufiger als Männer. Im Rahmen der Subkohorten-Auswertung der an CADASIL-Erkrankten stellte sich eine deutliche Verschiebung zu Gunsten des weiblichen Geschlechts unklarer Ursache dar. Am häufigsten waren autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen, gefolgt von autosomal-dominanten und x-chromosomalen. Allerdings ist die x-ALD sowohl in unserer Kohorte als auch in der Literatur die häufigste monogenetisch adulte Leukencephalopathie. Bekanntermaßen sind autosomal-rezessive Erkrankungen häufiger im Falle einer Konsanguinität zu beobachten. Passenderweise konnte in unserer Kohorte in allen Fällen mit konsanguinen Eltern ein autosomal rezessiver Vererbungsmodus nachgewiesen werden. Im Median betrug die Latenz zwischen Erstmanifestation und Diagnosestellung 7 Jahre. Dies deckt sich mit Literaturangeben und stellt eine gravierende Limitation für eine rechtzeitige Therapieeinleitung dar. Erschwert wird die Diagnosestellung durch die heterogene phänotypische Präsentation adulter Leukencephalopathien. Häufig waren kognitive Defizite, Pyramidenbahnstörungen und cerebelläre Ataxie ebenso wie eine verminderte Pallhypästhesie, Depressionen und Kopfschmerzen, während extrapyramidal-motorische Störungen, eine Beteiligung des zweiten Motoneurons oder organische Psychosen nur selten zu beobachten waren. Dies deckt sich mit den publizierten Kohorten, die primär Bewegungsstörungen und kognitive Defizite beschrieben. Eine Beteiligung des 2. Motoneurons konnte lediglich bei Morbus Tay-Sachs und Morbus Sandhoff nachgewiesen werden. In der ALD-Kohorte zeigte sich überraschenderweise ein ähnlicher Erkrankungsverlauf bei Männern und heterozygoten Frauen. Heterozygote Anlageträgerinnen erkranken bekannterweise jedoch im Mittel später und weisen mildere klinische Symptome auf. Unsere Kohorte unterschied sich somit hinsichtlich der klinischen Verläufe weiblicher Anlageträgerinnen von den in der Literatur beschriebenen Fällen. Dieses Phänomen ist möglicherweise durch einen Bias (Vorstellung schwerer betroffener weiblicher Anlageträgerinnen) der Spezialambulanz bedingt. Bei in etwa der Hälfte der Männer konnte eine Nebenniereninsuffizienz festgestellt werden. Frauen waren indes nicht von einer Nebennierenrindeninsuffizienz betroffen. Bei einem Patienten ist es zu einer Progression der AMN in einer cerebrale Form der ALD gekommen. In der CTX-Kohorte zeigte sich eine signifikant höhere Anzahl klinischer betroffener Systeme im Vergleich zur Gesamtkohorte. Was wiederum die breite phänotypische Präsentation der Erkrankung unterstreicht. Chronische Diarrhöen im Kindesalter und juvenile Katarakt waren häufig frühe Zeichen einer CTX-Erkrankung. Xanthome konnten, obwohl sie namensgebend für die Erkrankung sind, nur bei 30% der Patienten nachgewiesen werden.
Durch Etablierung von NGS erfolgte eine Änderung der molekulargenetischen Diagnosestrategie während des Ergebungszeitraumes nach best-practise von Einzelgensequenzierung über Panel- und Exomdiagnostik bis zur standardmäßigen Durchführung von Whole-Genom-Sequenzierung seit dem Jahr 2021. Mit einer Diagnoserate von insgesamt 65% gelang in unserer Kohorte im Vergleich zur Literatur überdurchschnittlich häufig eine molekulargenetische Diagnosesicherung
Die Kohorten der molekulargenetisch gelösten und der molekulargenetisch ungelösten Leukencephalopathie-Patienten unterschieden sich nicht merklich hinsichtlich des phänotypischen Spektrums und wiesen eine vergleichbare Altersstruktur bei Erstmanifestation auf. Differenzialdiagnostisch spricht dies gegen das übermäßige Vorliegen, einer gehäuft in zunehmenden Lebensalter auftretenden Mikroangiopathie, als Ätiologie der Marklagerlagerveränderungen der ungelösten Patienten. Phänotypisch präsentierten sich die Kohorten hinsichtlich Anzahl und Verteilung der klinischen Merkmale homogen, wenngleich Kopfschmerzen signifikant häufiger in der Kohorte der ungelösten Patienten waren und Pyramidenbahnstörungen bei den genetisch gelösten Fällen häufiger waren. Bei ungelösten Patienten war häufiger ein WES oder WGS erfolgt, während in der Kohorte der gelösten Patienten häufiger Einzelgensequenzierungen durchgeführt wurden.