Inhaltszusammenfassung:
Zwangsstörungen gehören zu den häufig auftretenden psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen. Das Risiko eines chronischen Verlaufs ist hoch, insbesondere ohne adäquate Behandlung. Leitlinien empfehlen als Therapiemethode der ersten Wahl die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die Expositionen mit Reaktionsmanagement beinhalten sollte. Die Daten zur Versorgung zeigen jedoch, dass eine große Diskrepanz zwischen den Empfehlungen und deren Umsetzung besteht. Nur ein Teil der Kinder und Jugendlichen wird mit KVT behandelt, Expositionen werden oftmals gar nicht oder zumindest zu selten eingesetzt und eine therapeutische Begleitung bei Übungen in zwangsauslösenden Situationen im Alltag (höchste Symptomaktualisierung) findet äußerst selten statt. Hindernisse hierbei stellen fehlende ambulante Psychotherapiekapazitäten, speziell in ländlichen Regionen, die geringe Zahl an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit Expertise für die Behandlung von Kindern mit Jugendlichen mit Zwangsstörungen sowie der hohe organisatorische und zeitliche Aufwand für die Durchführung von Expositionen dar. Es besteht somit Bedarf, neue Ansätze zu entwickeln, um die Lücke zwischen Behandlungsempfehlungen und Versorgungsrealität zu verringern. Der Einsatz technologiebasierter Interventionen hat das Potenzial hierzu. Im Fokus dieser Dissertation stand die Entwicklung einer manualisierten internetbasierten KVT für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen. Diese Behandlung sollte aus einem digitalen Gesamtpaket bestehen, bei dem Sitzungen mit Expertinnen und Experten per Videokonferenz stattfinden, in diesen Expositionsübungen im häuslichen Umfeld erfolgen, Therapiematerialien online über eine Cloud bereitgestellt werden und die Zwangssymptomatik über ein appbasiertes Assessment im Alltag erhoben wird. Die Fragestellungen lauteten, (1) ob ein internetbasierter Therapieansatz machbar ist und von den Familien akzeptiert wird, sowie (2), ob er wirksam ist und sich hiermit die Zwangssymptomatik bedeutsam reduzieren lässt. Dies wurde im Rahmen von zwei klinischen Studien untersucht. Studie I war eine Machbarkeitsstudie, in der der oben beschriebene technologiebasierte Behandlungsansatz erstmals zum Einsatz kam. Neun Kinder und Jugendliche im Alter von 7-17 Jahren erhielten 14 Sitzungen KVT (eine in Präsenz, 13 per Videokonferenz). Zielsetzung war die Beantwortung von Fragestellung (1) anhand einer Nachbefragung der Kinder, Eltern und Behandler zu Machbarkeit und Akzeptanz. Zudem wurde die Veränderung der Zwangssymptomatik im Prä-Post-Vergleich erfasst, gemessen mit der Children's Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (CY-BOCS). Anhand der Ergebnisse wurden das Therapiemanual und die Technik optimiert für Studie II. Studie II war eine randomisiert-kontrollierte Studie (RCT) mit Fokus auf der Beantwortung von Fragestellung (2). Die 60 Teilnehmenden im Alter von 6-18 Jahren erhielten 14 Sitzungen der in Studie I etablierten KVT per Videokonferenz. Nach Durchführung der Basisdiagnostik und dem Studieneinschluss wurden die Kinder und Jugendlichen nach dem Zufallsprinzip entweder der Behandlungs- oder der Wartelistenkontrollgruppe zugewiesen. In der Behandlungsgruppe begann die Therapie unmittelbar nach der Basisdiagnostik (t0), in der Wartelistengruppe erfolgte dieselbe Behandlung nach einer 16-wöchigen Wartezeit. Dieser Zeitpunkt entsprach dem Therapieende der Behandlungsgruppe (t1). Die Behandlungswirksamkeit wurde über Unterschiede im CY-BOCS Gesamtwert zwischen Behandlungs- und Wartegruppe zu t1 gemessen. Zur Erfassung der Stabilität der Behandlungseffekte erfolgten 16 und 32 Wochen nach Abschluss der Behandlung Follow-up Messungen. Zudem fand eine Nachbefragung zum Therapieprozedere und der Zufriedenheit damit bei den Kindern, Eltern und Behandelnden statt. In Studie I zeigte sich, dass die Umsetzung des internetbasierten Behandlungskonzepts machbar ist. Die Akzeptanz- und Zufriedenheitswerte durch die Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern nach Abschluss der Behandlung waren hoch. Als besonders hilfreich wurden die therapeutisch begleiteten Expositionsübungen in auslösenden Situationen zu Hause erlebt. Die Mehrheit gab an, dass sie eine face-to-face Therapie gegenüber einem internetbasierten Ansatz nicht bevorzugt hätte. In Studie II fanden sich ähnliche Werte, zum Teil fielen die Rückmeldungen sogar noch positiver aus. Im Verlauf der Behandlung von Studie II nahm die Zwangssymptomatik, gemessen mit der CY-BOCS in der Behandlungsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant ab. Cohen‘s d zwischen den Gruppen zum Zeitpunkt t1 betrug 1.63. Nachdem die Kinder und Jugendlichen der Wartelistengruppe ebenfalls die Behandlung erhalten hatten, ging die Zwangssymptomatik auch in dieser Gruppe signifikant zurück. In beiden Gruppen kam es über die Nachuntersuchungen hinweg zu einem weiteren Rückgang der Symptome. Die Remissionsrate erreichte ihren Höchststand bei Follow-up II mit 68% in der Behandlungsgruppe und 79% in der Wartelistengruppe. Die internetbasierte Psychotherapie bei Zwangsstörungen erwies sich technisch als machbar, wurde von den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern angenommen und war wirksam. Die Behandlungseffekte lagen dabei auf einem vergleichbaren Niveau mit denen von Studien zur face-to-face Therapie. Die Resultate von Studie I und II tragen dazu bei, die bestehende Datenlage zu technikbasierten Therapieansätzen bei Zwangsstörungen nennenswert auszubauen und legen nahe, dass diese eine valide Erweiterung des Behandlungsspektrums darstellen und den Zugang zu wirksamer Therapie erleichtern. Abschließend werden in dieser Dissertation technische Perspektiven dargestellt, durch die die Behandlung noch stärker in den Alltag der Patientinnen und Patienten integriert wird. Daraus kann eine erhöhte Wirksamkeit resultieren. Konkret zu nennen sind die Verknüpfung von Präsenz- und digitalen Interventionen („blended treatment“), sowie der Einsatz von Sensortechnologie und künstlicher Intelligenz.