Inhaltszusammenfassung:
Die Fähigkeit von Vögeln sich wendig und präzise in jedem bewohnbaren Lebensraum fortzubewegen, fasziniert Forscher seit über einem Jahrhundert. Es wird vermutet, dass die Beweglichkeit der Vögel durch ein mechanosensorisches Organ ermöglicht wird, welches direkt in die untere Wirbelsäule, im sog. Lumbosakralbereich, integriert ist. Diese Spezialisierung der Vögel im Lumbosakralbereich
ist dabei einzigartig unter den Wirbeltieren. Obwohl die morphologischen Spezialisierungen bereits vor mehr als einem Jahrhundert entdeckt wurden, sind ihre funktionellen Merkmale nach wie vor unbekannt. Die unmittelbare Nähe dieses mechanosensorischen Organs zum Ischiasnerv und den damit ver- bundenen motorischen Schaltkreisen könnte erklären, wie Vögel die Grenzen der Nervenleitgeschwindigkeit umgehen, die neuronalen Schaltkreise verkürzen und so die Agilität und Tiefensensibilität (Propriozeption) auch bei hohen Geschwindigkeiten ermöglichen. Die lumbosakrale Region bzw. das "lumbosakrale Organ" (LSO) besteht aus einem sehr dichten Glykogenkörper, der zwischen den Ruckenmarkshälften eingekeilt ist und von einem Geflecht aus zahnförmigen Bändern gestützt wird. Aus den lateralen Seiten des Ruckenmarks ragen akzessorische Lappen in einen mit Flüssigkeit gefüllten, erweiterten Ruckenmarkskanal mit halbkreisförmigen, querverlaufenden Rillen auf der Dorsalseite. Diese akzessorischen Lappen könnten möglicherweise eine mechanosensorischer Funktion aufweisen. Die topographische Analyse der Anatomie dieser Lappen lässt auf zwei Anregungsmechanismen schließen, welche sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Zum einen könnte die enge Verbindung der akzessorischen Lappen mit dem das Rückenmark stützenden Ligamentum denticulare, einen dehnungsbasierten Mechanismus darstellen. Zum anderen deutet die Ausrichtung der Lappen hin zu den öffnungen der querliegenden Rillen, welche den Bogengängen eines Säugetierinnenohrs ähneln, auf einen Mechanismus hin, welcher über die Bewegung der Flüssigkeit induziert wird.
In dieser Arbeit wurden existierende Hypothesen zur Funktionsweise des LSO und dessen Wahrnehmung von Strömungen, Druck oder Dehnung durch die Anwendung moderner Techniken erweitert. Im Gegensatz zu früheren Theorien wurden hier die Interaktion der lumbosakralen Spezialisierungen berücksichtigt. Die morphometrische 3D-Analyse von Daten, die per digitaler Dissektion erzeugt wurden, ermöglichen es den Flussigkeitsraum um das neurale Weichgewebe zu analysieren. Zusätzlich zeigt die klassische Dissektion zeigt feine Details des hängemattenartigen Netzwerks der dentikulären Bänder, die in unserer 3D-Karte nicht sichtbar sind. Durch die Kombination der Ergebnisse der digitalen und der klassischen Dissektion können wir die Verschiebung- und Verformungskapazität des Weichgewebes im vergrößerten und mit Flüssigkeit gefüllten lumbosakralen Wirbelsäulenkanal abschätzen. Die Ermittlung der morphologischen und biomechanischen Eigenschaften erlaubt uns die Hypothese eines sensorischen Mechanismus aufzustellen, der auf der Oszillation des lumbosakralen Weichgewebes durch externe Beschleunigung beruht und dessen Bewegung einem flussigkeitsgefullten Feder-Masse-Dämpfer-System ähnelt. Möglicherweise könnten Auslenkungen des neuralen Weichgewebes durch äußere physikalische Kräfte, über die mechanosensiblen, akzessorischen Lappen erfasst werden. Auf diese Weise könnte der LSO Beschleunigungskräfte unabhängig von dem im Kopf lokalisierten vestibulären Apparat wahrnehmen. Eventuell wird das viskoelastische Rückenmark durch den dichten Glykogenkörper belastet und dadurch verformt. Allerdings wurde bisher in keiner Studie untersucht, ob die Weichteile im Lumbosakralkanal von Vögeln beweglich sind. Die Identifizierung der Weichteilbewegungen in vivo innerhalb der stark pneumatisierten Knochen des fusionierten Synsakrums, die ebenfalls mit mehrschichtigem Weichgewebe bedeckt sind, ist mit den derzeit verfügbaren Techniken nur sehr schwierig zu analysieren. Aus diesem Grund haben wir eine Kombination aus digitaler in situ Dissektion und biophysikalischer Simulation zur Analyse herangezogen. Durch 3D-Scanns von Kadaver-LSO-Proben in verschiedenen Orientierungen konnten wir zeigen, dass die LSO-Weichgewebe im statischen Zustand eine geringe Positionsverschiebung aufweisen. Durch eine Abwandlung des traditionellen diceCT (Iod-kontrastverstärkende Computertomographie)-Protokolls konnten wir außerdem weitere Details der Topologie der Ligamenta denticularis sichtbar machen, welche sich auf die Mobilität des Weichgewebes auswirken könnten. Inspiriert von der LSO-Morphometrie entwickelten wir so ein konfigurierbares, biophysikalisches LSO-Modell, um die Auswirkungen einzelner Strukturen zu untersuchen. Die biophysikalische Simulation bestätigte unsere Annahme, dass das Netzwerk der dentikulären Bänder, sowie das Ausmaß der Beschleunigung, die Beweglichkeit der Weichteile beeinflussen. Durch Veränderung der Parameter des LSO-Modells konnten wir zeigen, dass fluiddynamische Effekte des lumbosakralen Wirbelkanals ebenfalls einen Einfluss auf die Zeit-und Frequenzantwort der Weichteile haben. Unsere Hypothese, dass das LSO einem Feder-Dämpfer-System ähnelt, wird durch das Glykogenkörper-Modell gestützt, welches als mechanischer Verstärker für Ruckenmarksschwingungen fungiert.
Abstract:
Avian ability to agile and precise locomotion in every livable habitat has fascinated researchers for over a century. One explanation for birds' agility is a mechanosensory organ directly integrated into the lower spine in the lumbosacral region. The proximity of the potential mechanosensory organ to the sciatic nerve and its associated motor circuits could explain how birds circumvent the limits of nerve conduction velocity associated with proprioception by shortening neural circuits, thereby contributing to the agility of avian locomotion. Avian lumbosacral region's specializations are unique among vertebrates. The lumbosacral region, recently referred to as the lumbosacral organ (LSO), consists of a high-density glycogen body wedged between the spinal cord hemispheres, supported by a pronounced network of denticulate ligaments. From the lateral sides of the spinal cord, accessory lobes with potential mechanosensory function protrude into a fluid-filled expanded spinal canal with transverse semicircular grooves on the dorsal side. Although the LSO specializations were discovered more than a century ago, their functional features remain unknown. The topographic anatomy of the accessory lobes suggests two excitation mechanisms that are not necessarily mutually exclusive. Firstly, the intimal connection of the accessory lobes to the denticulate ligament network supporting the spinal cord offers a strain-based mechanism of accessory lobe excitation. Secondly, the accessory lobes' alignment with the opening of transverse grooves, which resemble the semicircular canals of the mammalian inner ear, indicates that the excitation mechanism could be associated with a fluid flow.
In this thesis, by applying modern techniques to earlier hypotheses about the LSO’s perception of fluid flow, pressure, and strain - we developed a new mechanosensing hypothesis, which in contrast to previous theories, considers the interaction of the lumbosacral specializations. 3D morphometric analysis of data produced by digital dissection allows us to evaluate the fluid space around the neural soft tissue. Additionally, classical dissection shows fine details of the hammock-like network of denticulate ligaments not visible in our 3D map. We estimate potential soft tissue displacement and deformation capacity inside the enlarged and fluid-filled lumbosacral spinal canal by combining the digital and classical dissection results. Establishing morphological and biomechanical properties allows us to hypothesize a sensing mechanism based on lumbosacral soft tissue oscillation caused by external acceleration, with a motion similar to a fluid-filled spring-mass-damper system. Potentially the mechanosensitive accessory lobes encode signals about the internal state of the neural soft tissue, entrained by external physical forces. Hence, the LSO may sense acceleration forces independently from the vestibular apparatus localized in the head. A relatively dense glycogen body potentially loads the viscoelastic spinal cord, causing it to deform. However, no study has tested whether the soft tissues inside the lumbosacral canal of birds are movable. The state-of-the-art techniques show limits in identifying soft tissue movements in vivo inside highly pneumatized bones of a fused synsacrum covered with multilayered soft tissue. Therefore, we combined in situ digital dissection and biophysical simulation. 3D scanning of cadaver LSO samples in different orientations enabled us to reveal that the LSO soft tissues exhibit minor position displacement in a static state. Our modification of the traditional diceCT protocol allowed us to visualize previously undocumented details on the denticulate ligament topology, which potentially affects soft tissue mobility. Inspired by LSO morphometrics, we developed a reconfigurable biophysical LSO model to study the impact of individual lumbosacral anatomical structures. The biophysical simulation confirmed our assumption that the denticulate ligament network and the magnitude of acceleration affect soft tissue mobility. By altering the LSO model parameters, we also revealed the fluid dynamics effects of the lumbosacral spinal canal morphology on the soft tissues' time and frequency response. Our hypothesis that the LSO resembles a spring-damper system is supported by the glycogen body model acting as a mechanical amplifier for spinal cord oscillations.