Inhaltszusammenfassung:
Longitudinalstudien sind mit dem Problem konfrontiert, dass Probanden aus verschiedenen Gründen vor Erreichen des Studienendpunkts vorzeitig aus der Studie ausscheiden. Dies wird in der Literatur als "Dropout" bezeichnet und kann die Aussagekraft und statistische Power von Studien beeinträchtigen, insbesondere dann, wenn Dropout nicht zufällig, sondern nach einem bestimmten Muster erfolgt (MNAR, "missing not at random"). Dies betrifft in besonderem Maße Longitudinalstudien mit älteren Menschen und zur Erforschung von Risikofaktoren und Prodromalmarkern für Neurodegeneration. Zu diesem Thema existiert bislang nur wenig Forschung und häufig werden Dropout-Raten und -Charakteristika nur sehr unzureichend oder gar nicht berichtet.
Ziel der vorliegenden Arbeit war, Charakteristika von Dropouts in der "Tübinger Erhebung von Risikofaktoren zur Erkennung von Neurodegeneration" (TREND) zu untersuchen, einer im Jahr 2009 begonnenen Longitudinalstudie mit 1201 Probanden (≥50 Jahre), die größtenteils Risikofaktoren und Prodromalmarker für Parkinson- und Demenzerkrankungen aufweisen (sog. "at risk"-Kohorte) und in TREND im Abstand von jeweils 2 Jahren ausführlich untersucht werden.
Nach 11 Jahren Studiendauer fand sich eine Dropout-Rate von 30,5% bzw. 17% (Percentage- bzw. True-Person-Time-Methode), was im Vergleich zu ähnlichen Studien sehr gering ist. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse der dokumentierten Dropout-Gründe ließen sich 12 Kategorien bilden. Der häufigste Dropout-Grund war Krankheit/Gebrechlichkeit (29%), gefolgt von Überforderung mit der Studie (14%) und Tod (13%). Durch Querschnittsanalysen auf Visitenebene und Regressionsmodelle, die den Verlauf und Veränderungen von Prädiktoren im Lauf der Studie berücksichtigen können (Cox-Regression mit zeitabhängigen Kovariaten), konnte ein Risiko-Profil für Dropouts in der TREND-Studie erstellt werden: Dropouts sind nicht nur älter, weniger gebildet und weisen einen im Lauf der Studie größer werdenden Anteil von Frauen auf, sondern zeigen alters-, geschlechts- und bildungsunabhängig schlechtere Ergebnisse in kognitiven Tests und Domänen. Insbesondere die in den Dropout-Gruppen stark erhöhte Prävalenz von amnestic MCI, die als mögliche Vorstufe einer Alzheimer-Demenz anzusehen ist, war auffällig. Des Weiteren fanden sich bei Dropouts häufiger kardiovaskuläre Risikofaktoren, Prodromalmarker einer Parkinson- oder Demenzerkrankung, eine erhöhte Depressivität und schlechtere Leistungen in Tests der funktionellen Mobilität. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Teilnahme-Motivationsgründe waren ebenfalls mit Dropout assoziiert. Dropouts wiesen jedoch seltener eine positive Familienanamnese für Demenzerkrankungen auf. Dropouts nach Visite 1 zeigten besonders viele der genannten Merkmale, während sich Dropouts zu späteren Zeitpunkten immer weiter den Remainern anzunähern scheinen.
Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit Befunden aus der Literatur und bestätigen den bereits bekannten "healthy survivor effect", wobei keine der gefundenen Studien eine solche Vielzahl von Outcome-relevanten Faktoren hinsichtlich Neurodegeneration gleichzeitig untersucht hat; zudem wurden in der Literatur häufig nur Unterschiede bei Baseline betrachtet und Veränderungen von Faktoren im Verlauf vernachlässigt.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse aus TREND, dass insbesondere Probanden mit einem erhöhten Risiko für Parkinson- und Demenzerkrankungen vorzeitig aus TREND ausscheiden. Als Konsequenz ergibt sich der Bedarf, an diese Risiko-Gruppe angepasste Retentionsstrategien zu entwickeln (Kontakt auch zwischen den Erhebungsrunden engmaschig halten, frühzeitig Angehörige und Hausärzte als mögliche Informationsquellen einbeziehen, flexible Gestaltung der Visiten). Die in dieser Arbeit nachgewiesenen MNAR-Bedingungen für TREND müssen in künftigen Datenanalysen berücksichtigt werden.