Inhaltszusammenfassung:
Bisherige Forschungsbefunde legen nahe, dass durch den Schriftspracherwerb implizite Aspekte der Sprachwahrnehmung modifiziert werden. In einer früheren Studie zeigte sich, dass lesende Kinder bei der auditiven Worterkennung mehr phonemische Details berücksichtigen als Kinder, die noch nicht lesen konnten (Schild, Röder, & Friedrich, 2011). Der Schriftspracherwerb ist vorranging mit zwei Aspekten assoziiert: Buchstabenwissen und phonologischer bzw. phonemischer Bewusstheit. In dieser Dissertation wurde untersucht, welcher dieser Aspekte des Schriftspracherwerbs zu einer detaillierteren phonologischen Verarbeitung bei nicht-lesenden Vorschulkindern und beginnenden Lesern führt. Deutschsprachige nicht-lesende Vorschulkinder im Alter von 5 - 6 Jahren nahmen an einer Trainingsstudie teil, in der sie entweder a) in phonemischer Bewusstheit, b) in einem kombinierten Training aus phonemischer Bewusstheit und Buchstabenwissen oder c) in einem Kontrolltraining trainiert wurden. In den Trainings wurde vor allem das Erkennen des Kontrastes zwischen zwei Phonemen trainiert, die sich nur in der Stimmhaftigkeit unterschieden (/g/ und /k/). Vor und nach dem Training wurde phonologische und phonemische Bewusstheit und Buchstabenwissen erhoben. Im Anschluss an das Training wurde mittels Wort Fragment Priming getestet, wie sensitiv die Kinder phonemische Variationen in der gesprochenen Sprache verarbeiteten. Die Kinder hörten Primes, die entweder identisch mit einem Zielwort waren (z.B. „Ki - Kino“), im ersten Phonem in der Stimmhaftigkeit abwichen (z.B. „Gi - Kino“) oder unrelatiert waren (z.B. „Ba - Kino“). Neben dem trainierten Kontrast wurden auch ein untrainierter Phonemkontrast präsentiert (/b/ und /p/). Es wurden Reaktionszeiten und ereigniskorrelierte Potentiale erhoben. Zusätzlich wurden Erwachsene als Kontrolle erhoben. Es wurde erwartet, dass sich beide Gruppen mit phonemischen Trainings in den Tests zur phonemischen und phonologischen Bewusstheit nach dem Training verbesserten. Zusätzlich wurde erwartet, dass die kombinierte Gruppe sich im Buchstabenwissen verbessern würde. Die Aktivierungsmuster der Reaktionszeiten und ereigniskorrelierten Potentiale wurden herangezogen um zu messen, wie detailliert die Vorschulkinder phonemische Variationen verarbeiteten. Es wurde erwartet, dass Vorschulkinder aus beiden Sprachgruppen detailliert Unterschiede zwischen den initialen Phonemen von Prime und Zielwort verarbeiten würden. Für die Kontrollgruppe wurde dies nicht erwartet. Der Vergleich der beiden Sprachgruppen sollte Aufschluss darüber geben, welcher Faktor des Lesenlernens zu einer detaillierteren Verarbeitung phonemischer Variationen führen würde. Sollte phonemische Bewusstheit die Sprachwahrnehmung modulieren, wurden vergleichbare Aktivierungsmuster für beide Sprachgruppen erwartet. Sollte die kombinierte Sprachgruppe detaillierter phonemische Variationen verarbeiten, würde dies dafürsprechen, dass Buchstabenwissen zusätzlich zur phonemischen Bewusstheit die Sprachverarbeitung modifiziert. In diesem Fall sollte sich der Effekt vor allem für das Paar an trainierten Buchstaben zeigen. Beide Gruppen, die ein Training zur phonemischen Bewusstheit erhielten, verbesserten sich erwartungsgemäß in der phonologischen Bewusstheit. Entgegen der Erwartungen verbesserten jedoch alle Gruppen ihre phonemische Bewusstheit und ihr Buchstabenwissen. Reaktionszeiten indizierten eine differenzierte Wortverarbeitung in allen Gruppen. Die ereigniskorrelierten Potentiale zeigten jedoch, dass nur die Gruppen mit phonemischen Training phonemische Variationen in der Stimmhaftigkeit detailliert verarbeiteten. Es fand sich kein Unterschied in der Verarbeitung phonemischer Variationen zwischen den beiden Sprachgruppen. Die Verarbeitung von trainierten und untrainierten Phonemkontrasten unterschied sich nicht. In einer zweiten Studie wurde untersucht, inwieweit sich die Sensitivität für phonemische Variationen entwickelt, sobald die Kinder mit dem formalen Leseerwerb begonnen hatten. Kinder, die an einem der beiden Sprachtrainings teilgenommen hatten, wurden nach der ersten und zweiten Klasse erneut zur Untersuchung eingeladen. Maße zur phonologischen und phonemischen Bewusstheit sowie zur Lesefertigkeit wurden erhoben. Das Wort Fragment Priming Experiment wurde zu beiden Folgeterminen wiederholt, um die implizite auditive Worterkennung zu testen. Es wurde erwartet, dass phonologische und phonemische Bewusstheit sowie Lesefertigkeiten mit dem Alter zunehmen würden. Es wurde dabei davon ausgegangen, dass Kinder im Zuge des Leseerwerbs lernen, welche Phoneme zu welchen Buchstaben korrespondieren. Kinder mit mehr Leseerfahrung sollten daher geübter darin sein, Phoneme mit Buchstaben zu assoziieren. Sollten diese stabileren Phonem-Graphem-Korrespondenzen in geübten Lesern zu einer Modifikation von phonologischen Repräsentationen führen, wurde erwartet, dass Kinder mit mehr Leseerfahrung phonemische Variationen detaillierter verarbeiten würden als ungeübtere Leser. Phonologische und phonemische Bewusstheit nahmen mit dem Alter zu. Reaktionszeiten und ereigniskorrelierte Potentiale zeigten eine differenzierte Verarbeitung phonemischer Variationen in allen Altersgruppen. Bereits Vorschulkinder, die zuvor ein Training zur phonemischen Bewusstheit erhalten hatten, wiesen eine ausreichend differenzierte prälexikalische Verarbeitung auf. Mehr Erfahrung mit dem Schriftspracherwerb schien sich nicht auf die implizite Sprachverarbeitung auszuwirken. Nicht-lesende Vorschulkinder als auch Grundschulkinder scheinen sensitiver phonemische Variationen zu berücksichtigen, wenn sie über hohe phonologische Bewusstheit verfügen. Fortgeschrittene Lesefertigkeiten im Grundschulalter scheinen diese Sensitivität nicht weiter zu verändern. Der Vergleich zwischen den vorliegenden Ergebnissen und denen aus vorherigen Studien weisen zudem darauf hin, dass verschiedene phonemische Merkmale unterschiedlich stark in der Sprachverarbeitung berücksichtigt werden. Variationen in der Stimmhaftigkeit scheinen demnach von Hörern gesprochener Sprache weniger stark für den lexikalischen Zugriff berücksichtigt zu werden. Weiterhin ergaben sich Hinweise darauf, dass Reaktionszeiten und ereigniskorrelierte Potentiale mit unterschiedlichen Stadien der Sprachverarbeitung assoziiert sind. Reaktionszeiten scheinen vorrangig postlexikalische Verarbeitungsprozesse zu indizieren. Diese könnten durch strategische Mechanismen modifiziert sein. Ereigniskorrelierte Potentiale hingegen erwiesen sich als Maß prälexikalischer Verarbeitung.