4 DISKUSSION

Wachstum ist eine Grundeigenschaft von Pflanzen. Wie ein Keimling sich streckt und sich je nach Umweltbedingungen entwickelt, wurde und wird intensiv untersucht. Es zeigte sich, daß diese Vorgänge sehr viel komplizierter sind als zunächst angenommen. So sind beim Streckungswachstum des Hypokotyls auch rhythmische Vorgänge beteiligt. Sie äußern sich als Circumnutationen und als circadiane Modulationen der Wachstumsrate. Wo und wie diese Vorgänge ablaufen, ist nicht besonders gut bekannt.

SCHUSTER (1996) hat an Arabidopsis thaliana und Cardaminopsis arenosa solche Circumnutationen untersucht und beschrieben, wie sie von Umweltfaktoren wie Licht und Temperatur abhängen. Er hatte bereits darauf hingewiesen, dass mit Arabidopsis Untersuchungen in großer Zahl auf sehr engem Raum durchgeführt werden können. Mit seinem Aufnahmesystem konnte dies jedoch nur von oben durchgeführt werden. Von der Seite ließen sich nur wenige Pflanzen gleichzeitig aufnehmen. Mit Hilfe einer Verfahreinheit kann dagegen auch eine größere Zahl von Pflanzen gleichzeitig von der Seite registriert werden. Bei Aufnahme von oben lassen sich Periodenlänge, Amplitude und Richtung von Schwingungen bestimmen. Seitliche Registrierung liefert daneben auch Informationen darüber, an welchen Stellen des Hypokotyls die Schwingungen und das Wachstums stattfinden. Sie besitzen somit einen wesentlich höheren Informationsgehalt.

Ein umgebauter Nadeldrucker wurde zunächst verwendet, um eine oder zwei Kameras zu verfahren. Die Entwicklung dieser Anlage stand im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Versuche, die mit der Anlage durchgeführt wurden, haben daher teilweise nur exemplarischen Charakter. Möglichst viele verschiedene Anwendungsmöglichkeiten der Anlage sollten erprobt werden und können als Anregung für weitere, umfangreichere Versuchsserien dienen.

Das tagesperiodische Wachstum der Hypokotyle von Arabidopsis thaliana und Cardaminopsis arenosa wurde bei verschiedenen Lichtbedingungen registriert. Ein besonderes Augenmerk galt dabei auch der Lokalisierung und dem Verlauf von Circumnutation. Die phototrope Reaktion auf seitliche Blaulichtpulse wurde untersucht und gefunden, dass die Stärke der Reaktion tagesperiodisch moduliert ist. Es wurde ferner versucht herauszufinden, ob die phototrope Reaktion auf Wachstum oder auf reversiblen Änderungen beruht. Verschiedene Substanzen wurden in wässriger Lösung an unterschiedlichen Stellen der Keimlinge appliziert und ihre Wirkung auf Wachstum, Circumnutationen und Wachstumsrhythmik geprüft.

An welchen Segmenten des Hypokotyls die CN entstehen und welche physiologischen Prozesse dafür verantwortlich sind, lässt sich nur klären, wenn man sehr detaillierte Aufnahmen des wachsenden Stängels macht. Das gleiche gilt für die tagesperiodische Modulation des Streckens. Dazu wurde eine weitere Anlage gebaut, die auf einer dreidimensionalen Verfahreinheit beruht.

Um die Funktion der Auswertesoftware zu prüfen, wurden Simulationen mit Modellpflanzen durchgeführt. Das Simulationsmodell diente auch dazu, verschiedene Hypothesen zu testen, wie Circumnutationen zustande kommen.

4.1.1 Konstruktion der Verfahreinheiten

Wachstumsvorgänge bei Pflanzen sind mehrfach mit Bildanalyse-Verfahren untersucht worden. GORDON et al. (1984) benutzten ein halbautomatisches System zur Registrierung gravitrop stimulierter Helianthus-Keimlinge. Die Daten wurden dabei auf Videobändern oder auf photografischem Material archiviert. KRISTIE und JOLLIFFE (1985) verbanden Keimlinge mechanisch mit einem Messfühler und konnten über die elektrischen Signale die Längenänderungen der Hypokotyle messen. Der Messfühler reagierte jedoch nur auf die abgeleiteten Längenänderungen, die durch Wachstum und Circumnutationen hervorgerufen wurden. Es war deshalb nicht möglich, Richtung und Chiralität von Schwingungen zu erfassen. Mechanischer Stress kann zudem die Reaktion von Pflanzen beeinflussen, sodass berührungsfreie Messverfahren in jedem Fall zu bevorzugen sind. Die von SCHUSTER und ENGELMANN (1990) beschriebene Anlage basierte auf einer Videokamera und einem Atari Computer. Sie konnte nur reduzierte Bilddaten speichern, was einen erheblichen Informationsverlust bedeutet. Mit den hier beschriebenen Verfahreinheiten und Softwareprogrammen hingegen werden echte Bilder gespeichert, die dann beliebig oft betrachtet und unterschiedlichen Auswerteverfahren unterzogen werden können. Beide Systeme bieten den Vorteil, voll automatisiert zu sein, sodass damit Aufnahmen auch über längere Zeiträume ohne unverhältnismäßig hohen Arbeitsaufwand möglich sind. Mit den neu entwickelten Verfahreinheiten werden Stereobilder aufgenommen. Dadurch kann die dreidimensionale Bewegung von Keimlingen analysiert werden, was bei Aufnahmen mit nur einer Kamera nicht möglich ist. ANTONSEN und JOHNSSON (1996) benutzten deshalb 2 Atarisysteme zur seitlichen Registrierung, um die räumliche Bewegung der Organspitze von Hypokotylen darzustellen. CARE et al. (1998) untersuchten Zelllängenänderungen bei circumnutierenden Phaseolus-Keimlingen. Sie markierten dazu Anfang und Ende von übereinander liegenden Epidermiszellen mit Farbtröpfchen. Alle zehn Minuten wurden von der Seite Aufnahmen mit einem Umkehrmikroskop angefertigt. Zuvor wurde das drehbar gelagerte Mikroskop so ausgerichtet, dass sich die markierten Zellen genau in der Bildebene befanden. Zusätzlich zu den seitlichen Aufnahmen wurde die Bewegung des Keimlings mit Videoaufnahmen von oben verfolgt. Ein Vorteil dieser Methode war es, Längenänderungen auf zellulärer Ebene verfolgen zu können. Der Nachteil der Methode besteht jedoch darin, dass sie nicht automatisierbar ist. Für die dreidimensionale Verfahreinheit ist geplant, mit entsprechender Optik ebenfalls sehr große Abbildungsmaßstäbe zu realisieren. Dafür ist eine automatische Fokussierung nötig, die mit Hilfe der Aufnahmedaten der beiden Videokameras realisiert werden könnte.

Die Entwicklung der eindimensionalen Verfahreinheit stellte eine technische Herausforderung mit zunächst ungewissem Ausgang dar. Der Kameraträger mit den beiden Kameras hatte ein wesentlich höheres Gewicht als der ursprüngliche Druckkopf und es war zu befürchten, dass dadurch die Führungsschienen rasch abgenutzt würden. Anfangs wurde deshalb erwogen, zusätzliche Führungen anzubringen. Da die Werkstatt jedoch meist mit anderen Aufgaben befasst war, musste darauf verzichtet werden. Wider Erwarten konnten jedoch mit der Verfahreinheit mehr als 50 Versuche mit jeweils 4 bis 7 Tagen Dauer durchgeführt werden, ohne dass sich Abnützungserscheinungen zeigten.

Die Präzision der Anlage war sehr gut. Die einzelnen Pflanzen wurden so genau angefahren, dass sich der horizontale und vertikale Versatz zeitlich aufeinander folgender Bilder im Sub-Pixel-Bereich bewegte. Nur in sehr seltenen Fällen kam es vor, dass beim Verfahren einzelne Schritte verloren gingen. Da vor jedem scan neu kalibriert wurde, war von solchen Fehlern immer nur ein einziger Durchgang betroffen.

Probleme bereiteten die Framegrabberkarten, die manchmal nicht gut auf das Kamerasignal synchronisierten. Dies führte zu "durchlaufenden" Bildern. Da stets eine größere Anzahl von Bildern gemittelt wurden, führten einzelne durchlaufende Bilder zu "Schatten" von Pflanzen an willkürlichen Stellen des zusammengesetzten Bildes. Solche Bilder ließen sich dann meist nicht auswerten. Außerdem waren sie schlechter zu komprimieren, das "Zippen" dauerte länger und die resultierenden Zeitverzögerungen führten gelegentlich zum Ausfall ganzer scans. Die Probleme mit den Framegrabberkarten nahmen mit der Zeit zu. Austausch der Karten gegen neue lieferte bessere, aber nicht völlig befriedigende Ergebnisse.

Der Aufbau einer dreidimensionalen Verfahreinheit, die auf einer CNC-Maschine basierte, ging zunächst problemlos vonstatten. Da die Antriebselektronik komplett selbst gebaut wurde[1], war jedoch ein erheblicher Zeitaufwand nötig. Probleme bereitete allerdings der Antrieb der z-Achse: Durch das Gewicht der Kameras und des Kameraträgers begann sich der Schrittmotor dieser Achse im stromfreien Zustand zu drehen und die Einheit rutschte nach unten. Verschiedene Verfahren wurden erwogen, um dieses Problem zu lösen, unter anderem auch eine mechanische Lösung mit Gegengewichten an Umlenkrollen. Über einen Ruhestrom, der den Schrittmotor im letzten aktuellen Zustand festhielt, konnte dieses Problem letztlich behoben werden. Es war zu befürchten, dass es beim Umschalten der z-Achse von Fahrstrom auf Haltestrom dennoch zum kurzfristigen Abrutschen kommen würde. Dies war jedoch nicht der Fall.

Die dreidimensionale Verfahreinheit konnte erst kurz vor Ende der geplanten Bearbeitungszeit des Themas fertiggestellt werden. Nur wenige Versuche konnten damit durchgeführt werden, die im wesentlichen der Erprobung der Anlage dienten. An Software zur Auswertung der zusammengesetzten Bilder wird noch gearbeitet. Weitere Versuche mit der Anlage und Veröffentlichungen in Zusammenarbeit mit anderen Arbeitsgruppen sind geplant.

Mit die größten Schwierigkeiten bereitete es, dass die beiden einzigen brauchbaren Kameras, die zur Verfügung standen, unterschiedliche Modelle mit unterschiedlich großen CCD-Chips[2] waren. Daraus ergaben sich unterschiedliche Abbildungsmaßstäbe. Um sie auszugleichen, mussten an den Kameras verschieden lange Zwischenringe angebracht werden, was wiederum unterschiedliche Objektabstände erforderte. Dennoch konnten keine absolut identischen Abbildungsmaßstäbe erreicht werden. Es war daher auch noch eine zusätzliche rechnerische Anpassung erforderlich. Dafür musste die Anlage regelmäßig und zeitaufwändig geeicht werden.

Ein Problem stellte die Luftfeuchtigkeit in den Klimakammern dar. Es war nicht möglich, die Pflanzen innerhalb einer geschlossenen Kunststoff- oder Glasküvette zu registrieren, da an den Wänden Licht reflektierte. Aus institutsinternen Gründen musste die Arbeitsgruppe mehrmals innerhalb des Gebäudes und in andere Klimakammern umziehen. Die neuen Kammern hatten eine besonders hohe Luftumwälzung, die sich nicht reduzieren ließ. Besonders in der kalten Jahreszeit misslangen hier wegen der geringen Luftfeuchtigkeit viele Versuche. Die Pflanzen stellten in der trockenen Umgebungsluft ihr Wachstum ein oder vertrockneten. Erst gegen Ende der Versuchsserien konnte eine Klimakammer genutzt werden, in der sich die Luftfeuchtigkeit auf hohem Niveau halten ließ. Geringe Schwankungen von Temperatur und Feuchte lassen sich bei Klimakammern aufgrund von Regelvorgängen nie ganz vermeiden.


Abbildung 4-1: Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit in einer Klimakammer.

Die Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsschwankungen in der Klimakammer hatten bei manchen Versuchen Auswirkungen auf die Zeitverlaufsbilder. Bei den Wachstumsbildern war der Effekt kaum zu erkennen. Bei den Krümmungsalgorithmen war er jedoch manchmal sehr stark, insbesondere bei starker Vergrößerung.


Abbildung 4-2: Zeitverlaufsbild (Krümmungsalgorithmus 7) von Cardaminopsis arenosa. Die Pflanze war im schwachen Dauer-Weißlicht in der Klimakammer registriert worden, deren Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit in Abbildung 4-1 dargestellt werden. Die Periodenlänge der Störungen entspricht der Periodenlänge der Kammerschwankungen. Im dargestellten Aufnahmezeitraum wuchs die Pflanze nicht.

Bei der Berechnung der Krümmung wird zwei mal abgeleitet. Dies liefert sehr kleine Werte, die erst bei hoher Verstärkung sichtbar gemacht werden können. Auch ohne den Einfluss von Schwankungen der Kammertemperatur und Feuchte waren die Zeitverlaufsbilder der Krümmung stark mit Rauschen behaftet. Um brauchbare Ergebnisse zu erzielen, musste über größere Bereiche des Stängels gemittelt werden. Auch kleine Schwankungen im Eingangssignal werden durch die Krümmungsalgorithmen anscheinend verstärkt.

4.1.2 "Natürliche Markierungen", Stängelerkennung und Auswerteprogramme

Die von uns als "natürliche Markierungen" bezeichneten Helligkeitsunterschiede auf den Hypokotylen beruhen unter anderem auf Reflexionen an der Oberfläche. Kleine, ebene oder gleichförmig gekrümmte Bereiche der Kutikula reflektieren das Infrarotlicht der seitlichen Beleuchtung zur Kamera oder in andere Richtungen. Schwankungen der Temperatur und vermutlich insbesondere der Luftfeuchtigkeit ändern den lokalen Reflexionswinkel. Bereits geringe Änderungen haben einen starken Einfluss auf das Helligkeitsmuster des Hypokotyls. Auch wenn sich die Pflanzen im Verlauf von Circumnutationen auf die Kameras zu oder von ihnen weg neigen, ändern sich die Reflexionswinkel.

Das Schicksal der einzelnen Hypokotylbereiche, die in den Zeitverlaufsbildern des Wachstums als unterschiedlich gefärbte Linien erschienen, ließ sich in den Zeitverlaufsbildern mit dem Auge recht gut verfolgen. Da die "natürlichen Markierungen" jedoch teilweise durch Reflexionen zustande kommen, die sich bei Bewegungen ändern, war es schwierig, einzelne Punkte auf dem Hypokotyl über mehrere scans algorithmisch zu korrelieren. Ein solches Korrelationsprogramm ("Wurm") wurde entwickelt. Mit ihm konnte ein Punkt auf dem Hypokotyl am Ende eines Zeitverlaufsbildes markiert werden und das Programm versuchte, diesem Punkt die entsprechenden Punkte aus den davor liegenden scans zuzuordnen. Leider gelang die Korrelation häufig nicht, was dazu führte, dass der "Wurm" sich "verirrte". Er lief dann nicht mehr entlang der gefärbten Linien, sondern in andere Richtungen. Die algorithmische Korrelation einzelner Stellen des Hypokotyls über die Zeit ist aber eine wichtige Voraussetzung, um eine Reihe von Fragen zu beantworten. Mit einem solchen Programm wäre es zum Beispiel möglich, lokale Wachstumsgeschwindigkeiten des Hypokotyls an verschiedenen Stellen nicht nur grafisch, sondern auch numerisch anzugeben. Indem man einen Punkt weit oben am Hypokotyl korreliert, könnte man die Bewegung des Keimlings quasi bei Betrachtung von oben darstellen. Das würde Informationen über die Chiralität von Circumnutationen liefern. Wenn man Festpunkte an gegenüber liegenden Seiten des oberen und unteren Hypokotyls verfolgen könnte, wäre es vielleicht möglich, die Längenänderungen der jeweiligen Stängelseite während der Schwingungen aufzuzeichnen. Damit könnte die Frage geklärt werden, ob es sich bei den Circumnutationen um reine Wachstumsbewegungen handelt oder ob auch elastische Vorgänge an ihrer Entstehung beteiligt sind.

Bei dem Stängelerkennungsprogramm, das für die zweidimensionale Verfahreinheit entwickelt worden war, basierte die Auswertung darauf, die Stängelmitte zu bestimmen. Dieses Programm konnte nur feste Bildformate auswerten und war an die Zeilen- und Spaltenzahl der Kameras angepasst. Für die Auswertung der Bilder der dreidimensionalen Verfahreinheit, die sich aus vielen Teilbildern zusammensetzen, wird derzeit ein neues Auswerteprogramm entwickelt, das mit variablen Bildformaten arbeiten kann. Es soll die Stängelkanten detektieren, was in Hinblick auf elastische oder plastische Vorgänge beim Wachstum von Bedeutung ist. Da die Pflanzen mit der dreidimensionalen Verfahreinheit abschnittsweise aufgenommen werden, können Aufnahmen in wesentlich größerem Maßstab angefertigt werden. Erste Versuche mit der neuen Auswertesoftware und Aufnahmen mit größeren Abbildungsmaßstäben zeigten, dass hier aufeinander folgende scans wesentlich besser korrelieren als beim alten Verfahren. Es ist auch zu erwarten, dass die größeren Aufnahmen weniger stark mit Rauschen behaftet sein werden. Dadurch lassen sich die Krümmungen und Krümmungsänderungen auf dem Hypokotyl deutlicher und präziser lokalisieren, auch ohne über lange Stängelbereiche mitteln zu müssen.

Da die neue Auswertesoftware mit variablen Bildgrößen arbeiten kann, lassen sich auch die Aufnahmen, die mit der zweidimensionalen Verfahreinheit angefertigt wurden, mit ihr nochmals auswerten. Vielleicht wird es möglich, mit Hilfe der neuen Software bei manchen der alten Aufnahmen eine Korrelation aufeinander folgender scans zu finden. Damit könnten nachträglich zusätzliche Informationen gewonnen werden wie weiter oben bei dem Korrelationsprogramm ("Wurm") beschrieben.


[1] frei verdrahtet nach der „Krähennesttechnik“

[2] 1/2“ und 1/3“ CCD


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