4.9 Erklärungsversuche
für das Zustandekommen der Circumnutationen unter Berücksichtigung
von Simulationen
Vom Apex ausgehend wird kontinuierlich
Auxin im Hypokotyl nach unten transportiert. Dies führt hier
zur Erweichung der Zellwände, insbesondere bei den Zellen der
Epidermis, die sich im Zusammenspiel mit dem Turgor verlängern.
Das Hypokotyl wächst. Die Länge der Zellen in der Epidermis
ist maßgeblich für die Gestalt des Hypokotyls. Asymmetrien
des Auxinflusses im Stängelquerschnitt führen zu lateralen
Wachstumsunterschieden und dadurch zu Krümmungen des Hypokotyls.
Eine Reihe von Hypothesen können erklären,
wie Circumnutationen zustande kommen.
· 1. Hypothese:
Circumnutationen kommen durch kreisförmige
Modulation des Auxinflusses oder eines anderen Wachstumsfaktors
zustande.
· 2. Hypothese:
Circumnutationen kommen durch gravitrope
Rückkopplung zustande. Durch zufällige Wachstumsunterschiede
gerät der Organismus in eine Schräglage. Diese wird durch
verstärktes Wachstum an der gegenüberliegenden Hypokotylseite
zu korrigieren versucht. Durch Überkompensation gerät
das System in Schwingungen.
· 3. Hypothese:
Neben dem polaren Auxintransport von oben nach unten wird auch ein
Teil des Auxins in die Nachbarzellen verlagert. Besitzt dieser laterale
Transport eine Chiralität,
könnten Circumnutationen zustande kommen.
· 4. Hypothese:
Mehrere dieser erwähnten Hypothesen treffen zu.
Um die erste Hypothese zu prüfen, wurde
in der Simulation das Modell einer zyklischen Anregung gewählt.
Eine Kunstpflanze wurde generiert, in deren oberste "Zelllage"
"Auxin" injiziert und dabei die "Auxinmenge"
mit 1+sin x über den "Zellring" moduliert wurde.
Da "Auxin" basipetal transportiert wurde, führte
dies erwartungsgemäß zu schräg herablaufenden, farbigen
Banden in den Zeitverlaufsbildern. Ähnliche Strukturen konnten
auch bei echten Pflanzen häufig beobachtet werden. Es gab jedoch
auch Aufnahmen, bei denen dies nicht so deutlich zu erkennen war.
Dies mag unter anderem auch an den Artefakten liegen, die durch
die Auswertealgorithmen 8 und 9 produziert wurden. Mit der dreidimensionalen
Verfahreinheit sollten hier noch klarere Ergebnisse zu erzielen
sein.
Die zweite Hypothese wurde am Modell nicht
geprüft. Eigene und viele andere experimentelle Befunde zeigen,
dass gravitrope Rückkopplung als alleinige Ursache für
Circumnutationen eher nicht in Frage kommt. Dass die Schwerkraft
jedoch das Schwingungsgeschehen beeinflusst, ist bekannt und gut
belegt. TEPPER und YANG (1996) zeigten beispielsweise, dass Schwingungen
von Pisum sativum-Sprossen
nach dem Entfernen von Blättern schwächer wurden. Ersetzte
man die Blätter jedoch durch Kunstblätter, nahmen die
Schwingungen wieder zu, was TEPPER und YANG auf die Schwerkraftwirkung
zurückführten.
Die dritte Hypothese, dass Chiralität
im lateralen Auxintransport die Ursache für Circumnutationen
sein könnte, konnte mit Hilfe des Simulationsmodells widerlegt
werden.
Die vierte Hypothese wurde bislang nicht am
Modell geprüft. Das hier verwendete Simulationsmodell basiert
auf sehr einfachen Annahme. In erster Linie war es für die
Prüfung der Auswertesoftware und erst in zweiter Linie für
die Prüfung von Hypothesen entwickelt worden. Wichtige Eingangsgrößen
wie Transportgeschwindigkeiten von "Auxin" oder Reaktionszeiten
auf Reize wurden nicht berücksichtigt. Das Modell lässt
sich jedoch leicht erweitern. Je mehr Details der an Krümmungen
und Schwingungen beteiligten Vorgänge bekannt werden, umso
realistischer kann das Modell gestaltet werden.
Für das bevorzugte Modell, das auf herablaufenden
Auxinströmen basiert, wurde eine zyklische Anregung gewählt.
Es ist nicht einfach zu erklären, wie es bei realen Pflanzen
zu einer solchen Anregung kommen könnte. Kotyledonen und Apex
sind die Hauptsyntheseorte von Auxin. Periodische Schwankungen der
Syntheserate beider Kotyledonen sind eher unwahrscheinlich. Solche
Schwankungen würden auch nur zu Pendelbewegungen in Richtung
der Kotyledonenachse führen und nicht zu kreisförmigen
Bewegungen. Um symmetrische Pendelbewegungen auszulösen, müsste
die Syntheseschwankungen beider Kotyledonen zudem synchronisiert
und um 180° phasenverschoben sein, was ebenfalls unwahrscheinlich
ist. Dass der Apex der Ursprung umlaufender Auxinströme ist,
wäre eher vorstellbar. Nach GRADMANN und BUSCHMANN (1996) schwingen
einzelne Zellen stets zwischen zwei Zuständen, in denen Ionen
(beispielsweise K+, Cl- und Protonen) aufgenommen oder abgegeben
werden. Dabei ändert sich ihr osmotischer Druck und ihre Transmembranspannung.
Benachbarte Zellen könnten in synchrone Schwingungen geraten
und die Synchronisation könnte als Welle den Apex umlaufen.
MILLET und BADOT (1996) konnten zeigen, dass Ionenkanäle eine
entscheidende Bedeutung bei Circumnutationen von Phaseolus
besitzen. Schwingungen im Apex könnten unter anderem auch die
Synthese von Auxin beeinflussen. Dass Auxin und Auxintransport für
Circumnutationen von zentraler Bedeutung sind, konnten meine Versuche
mit TIBA, NPA und IES belegen. Gegen die These, dass Circumnutationen
am Ort der Auxinsynthese entstehen, sprechen Befunde von TEPPER
und YANG (1996). Sie zeigten, dass Circumnutationen von Pisum
sativum nach Entfernen der jüngsten Blätter oder
der Organspitze eingeschränkt wurden. Wurde auf die Organstümpfe
IES-haltiges Lanolin aufgetragen, nahmen die Schwingungen wieder
zu. Damit Circumnutationen auftreten, muss genug Auxin vorhanden
sein, aber periodische Schwankungen der Auxinproduktion sind hier
wohl nicht Ursache der Circumnutationen. Dass Auxintransport entscheidend
ist, wurde von TEPPER und YANG (1996) ebenfalls bestätigt.
Ein Ring von TIBA, der um Stängel gelegt wurde, dämpfte
die Schwingungen stark.
Dass bei Circumnutationen wellenartige Auxinmuster
in Hypokotylen auftreten, beschrieben ORTUÑO et al. (1990).
Ob diese Muster Ursache für die Schwingungen sind oder eher
Folge verschiedener Reaktionen innerhalb einer Signalkette, ist
jedoch nicht klar.
Zusammenfassend stelle ich die These auf, dass
Circumnutationen durch Synchronisation der Schwingungen benachbarter
Zellen auf unterschiedlichen Höhen der Organe ausgelöst
werden könnten. Das Signal zwischen horizontal benachbarten
Zellen wird relativ langsam übertragen. Der polare Auxintransport
bewirkt hingegen eine rasche Kopplung des Elongationszustandes übereinander
liegender Zellen. Diese Vorstellung ähnelt dem Modell, das
ENGELMANN (1996) für die Bewegungen des Desmodium-Pulvinus
aufgestellt hat.
Schwingungen mit unterschiedlichen Periodenlängen
könnten auf unterschiedlicher Höhen des Hypokotyls entstehen,
wie bereits von Schuster (1996) vermutet. Dabei wären herablaufende
Auxinströme eher eine Folge als die Ursache der Schwingungen.
Möglicherweise wird Geschwindigkeit und/oder Menge des Auxintransports
durch die Schwingungen von Zellgruppen moduliert. Damit könnte
auch erklärt werden, wie sich Schwingungen verschiedener Periodenlängen
überlagern.
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